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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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der richtigen Anzahl von Wörtern und stand jedes Wort genau an seinem Platz. So also wollte ich um meinen Onkel Victor trauern. Eine Kiste nach der anderen öffnen und jedes einzelne Buch darin lesen. Das war die Aufgabe, die ich mir stellte, und ich hielt durch bis zum bitteren Ende.
    Jede neue Kiste enthielt ein ähnliches Durcheinander wie die erste, einen Mischmasch aus nieder und erhaben, massenhaft Eintagsfliegen neben Klassikern, zerfetzte Paperbacks zwischen gebundenen Ausgaben, Kommerz dicht an dicht mit Donne und Tolstoi. Onkel Victor hatte seine Bibliothek auf systematische Weise geordnet. Jedes neuerworbene Buch hatte er neben das zuletzt gekaufte ins Regal gestellt, und nach und nach waren die Reihen angewachsen, hatten im Lauf der Jahre immer mehr Platz eingenommen. Und genauso waren die Bücher in die Kisten gewandert. Wenn auch sonst nichts stimmte, die Chronologie war intakt, die Reihenfolge durch Saumseligkeit erhalten geblieben. Ich hielt das für eine ideale Anordnung. Jedesmal, wenn ich eine Kiste aufmachte, konnte ich einen anderen Abschnitt von Onkel Victors Leben besichtigen, einen bestimmten Zeitraum von Tagen, Wochen oder Monaten; mich tröstete das Gefühl, daß ich denselben geistigen Raum betrat, den Victor auch schon einmal betreten hatte - ich las dieselben Worte, lebte in denselben Geschichten, dachte womöglich sogar dieselben Gedanken. Fast war es, als folgte ich der Route eines Forschers aus längst vergangenen Tagen, als wiederholte ich seine entschlossenen Schritte in unberührtes Gebiet, westwärts mit der Sonne, dem Licht hinterher, bis es schließlich erlosch. Da die Kisten weder numeriert noch beschriftet waren, konnte ich nie im voraus wissen, in welchen Abschnitt ich mich begeben würde. Die Reise war daher eine Folge von einzelnen, unzusammenhängenden Spritztouren. Von Boston nach Lenox etwa. Von Minneapolis nach Sioux Falls. Von Kenosha nach Sah Lake City. Es kümmerte mich nicht, daß ich gezwungen war, auf der Landkarte herumzuspringen. Am Ende würden alle weißen Flecke ausgefüllt und alle Fernen durchmessen sein.
    Viele der Bücher kannte ich bereits, einige waren mir von Victor vorgelesen worden: Robinson Crusoe, Doktor Jekyll und Mr. Hyde, Unsichtbar. Davon ließ ich mich aber nicht abhalten. Ich ackerte mich durch alles mit gleichbleibender Leidenschaft, verschlang alte Werke ebenso gierig wie neue. In den Ecken meines Zimmers wuchsen Stapel ausgelesener Bücher, und wann immer einer dieser Türme umzustürzen drohte, packte ich die gefährdeten Bände in zwei Einkaufstüten und nahm sie auf meinem nächsten Gang zur Columbia mit. Gleich gegenüber dem Campus lag am Broadway Chandler’s Bookstore, ein vollgestopftes, staubiges Rattenloch, das schwunghaften Handel mit alten Büchern trieb. Zwischen dem Sommer 1967 und dem Sommer 1969 erschien ich dort Dutzende Male, um nach und nach mein Erbe zu veräußern. Es war die einzige Tat, die ich mir zugestand - Gebrauch zu machen von dem, was mir ohnehin gehörte. Es bereitete mir Kummer, mich von Onkel Victors ehemaligen Besitztümern zu trennen, doch war mir dabei klar, daß er es mir nicht übelgenommen hätte. Durch das Lesen der Bücher hatte ich meine Schuld bei ihm gewissermaßen beglichen, und bei meiner akuten Geldknappheit schien es mir nur logisch, den nächsten Schritt zu unternehmen und die Bücher zu Geld zu machen.
    Das Problem war, daß ich nicht genug daran verdiente. Chandler war nur auf seinen Vorteil aus, und er dachte von Büchern so ganz anders als ich, daß ich kaum wußte, was ich zu ihm sagen sollte. Für mich waren Bücher keine Behälter für Wörter, sondern eher die Worte selbst, und der Wert eines bestimmten Buchs ergab sich mehr aus seinem geistigen Rang als aus seinem äußerlichen Zustand. So war etwa ein eselsohriger Homer wertvoller als ein bildschöner Vergil; drei Bände Descartes waren nicht soviel wert wie einer von Pascal. Für mich waren das fundamentale Unterschiede, aber für Chandler gab es sie einfach nicht. Ein Buch war für ihn lediglich ein Gegenstand, ein Ding, das der Welt der Dinge angehörte, und als solches unterschied es sich nicht wesentlich von einem Schuhkarton, einer Saugglocke oder einer Kaffeekanne. Jedesmal, wenn ich einen Teil von Onkel Victors Bibliothek zu ihm brachte, begann der alte Mann mit der gleichen Prozedur. Er befingerte die Bücher voller Verachtung, prüfte die Rücken, suchte nach Flecken und Schäden und vermittelte stets den Eindruck eines

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