Mond über Manhattan
und ich konnte (theoretisch jedenfalls) nicht verhungern. Zwei Eier pro Tag, in zweieinhalb Minuten perfekt weich gekocht, zwei Scheiben Brot, drei Tassen Kaffee und so viel Wasser, wie ich trinken konnte. Ein nicht gerade umwerfender, doch immerhin symmetrischer Plan. In Anbetracht meiner geringen Wahlmöglichkeiten versuchte ich wenigstens daraus Mut zu schöpfen.
Verhungert bin ich nicht, doch gab es kaum einen Augenblick, in dem ich nicht hungrig war. Oft träumte ich vom Essen, Visionen von Festgelagen und Völlerei erfüllten in diesem Sommer meine Nächte: Platten mit Steaks und Lamm, saftstrotzende Schweine, die auf Tabletts herbeischwebten, Burgen von Torten und Nachspeisen, riesige Schalen mit Früchten. Tagsüber brüllte unablässig mein Magen, gurgelte im Ansturm unersättlicher Säfte, verfolgte mich mit seiner Leere, und nur durch zähes Ringen gelang es mir, ihn zu ignorieren.
Schon vorher alles andere als dick, verlor ich in diesem Sommer weiter an Gewicht. Gelegentlich warf ich im Drugstore einen Penny in die Personenwaage, um festzustellen, was mit mir passierte. Von 154 im Juni nahm ich im Juli auf 139 und dann im August auf 123 Pfund ab. Für jemanden, der knapp über eins achtzig groß war, wurde das langsam bedenklich wenig. Haut und Knochen halten schließlich auch nicht ewig, und irgendwann kommt man an den Punkt, wo es wirklich ernst wird.
Ich versuchte, mich von meinem Körper getrennt zu sehen, meiner Misere auszuweichen, indem ich sie einfach leugnete. Andere hatten das vor mir ausprobiert, und alle hatten herausgefunden, was ich schließlich auch für mich herausfand: Der Geist kann nicht über die Materie siegen, denn wird vom Geist zuviel verlangt, erweist er sich bald selbst als Materie. Um mich über die Umstände zu erheben, mußte ich mir einreden, daß ich nicht mehr existierte, und am Ende begann alles Existierende für mich ins Wanken zu geraten. Dinge, die es gar nicht gab, erschienen plötzlich vor meinen Augen und verschwanden wieder. Zum Beispiel ein Glas mit kalter Limonade. Eine Zeitung mit meinem Namen in der Schlagzeile. Mein alter Anzug, der völlig unversehrt auf meinem Bett lag. Einmal sah ich sogar eine frühere Ausgabe meiner selbst im Zimmer umhertappen und in den Ecken betrunken nach etwas suchen, das nicht zu finden war. Diese Halluzinationen währten nur Sekunden, schwangen in meinem Innern aber noch stundenlang nach. Dann gab es Zeiten, in denen ich mich selbst schlichtweg aus den Augen verlor. Ein Gedanke tauchte auf, und wenn ich ihn zu Ende verfolgt hatte, blickte ich auf und sah, daß es Nacht war. Über die verlorenen Stunden konnte ich mir auf keinerlei Weise Rechenschaft ablegen. Bei anderen Gelegenheiten ertappte ich mich dabei, wie ich imaginäres Essen kaute, imaginäre Zigaretten rauchte, imaginäre Rauchringe in die Luft um mich her blies. Das waren wohl die schlimmsten Momente, denn da wurde mir klar, daß ich mir nicht mehr trauen konnte. Mein Geist war ins Treiben geraten, und wenn es einmal soweit war, besaß ich nicht mehr die Kraft, ihn aufzuhalten.
Die meisten dieser Symptome traten erst ab Mitte Juli auf. Davor las ich pflichtbewußt die letzten von Onkel Victors Büchern durch und verkaufte sie an Chandler. Doch je näher ich dem Ende kam, desto mehr Schwierigkeiten machten mir die Bücher. Ich spürte, wie meine Augen mit den Wörtern auf dem Papier Verbindung aufnahmen, aber sie ergaben keinen Sinn mehr, ließen in meinem Kopf nichts nachklingen. Die schwarzen Zeichen schienen nur mehr verwirrend, eine zufällige Anhäufung von Geraden und Kurven, die nichts als ihre eigene Stummheit verkündeten. Schließlich tat ich nicht einmal mehr so, als verstünde ich, was ich da las. Ich zog ein Buch aus dem Karton, schlug es auf der ersten Seite auf und fuhr mit dem Finger über die erste Zeile. War diese zu Ende, fing ich mit der zweiten Zeile an, dann mit der dritten und so weiter bis zum Ende der Seite. So wurde ich mit der Arbeit fertig: wie ein Blinder, der Blindenschrift liest. Wenn ich die Worte schon nicht sehen konnte, wollte ich sie wenigstens berühren. Meine Lage war inzwischen so schlimm, daß mir das durchaus vernünftig vorkam. Ich berührte sämtliche Worte in diesen Büchern, und das gab mir das Recht, sie zu verkaufen.
Wie der Zufall es wollte, brachte ich die letzten genau an dem Tag zu Chandler, an dem die Astronauten auf dem Mond landeten. Ich verdiente etwas über neun Dollar bei dem Verkauf, und als ich danach den
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