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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ihre Zeit dort abgelaufen war, stiegen sie in das Land des Knappen Wassers hinab, eine so dürre und wüste Gegend, daß selbst die Wilden Männer dort nicht leben wollten. Die Wilden Männer kamen dort nur hin, weil sie auf dem Weg in eine andere Gegend waren, und die wenigen, die zufällig dort blieben und sich Häuser bauten, lebten so vereinzelt, daß Die Menschen ihnen ohne Mühe aus dem Weg gehen konnten. Dort also hatten Die Menschen seit dem Beginn der Neuen Zeit gelebt, und dies währte nun schon so lange, daß niemand sich mehr an das erinnern konnte, was vorher gewesen war.»
    Ihre Sprache ist Kepler zunächst unverständlich, doch nach einigen Wochen hat er genug davon mitbekommen, um an einfachen Gesprächen teilnehmen zu können. Als erstes erlernt er Substantive, das Dies und Das seiner Umgebung, und seine Sprache ist nicht subtiler als die eines Kindes. Crempos heißt Frau. Mantoac sind die Götter. Okeepenauk bezeichnet eine eßbare Wurzel, und tapisco bedeutet Stein. Da er so vieles auf einmal aufzunehmen hat, ist er nicht in der Lage, die innere Struktur dieser Sprache zu erkennen. Pronomen zum Beispiel scheinen als solche nicht zu existieren, sondern gehören zu einem komplexen System von Verb-Endungen, die sich je nach Alter und Geschlecht des Sprechers verändern. Gewisse häufig benutzte Wörter haben zwei diametral entgegengesetzte Bedeutungen - oben und unten, Mittag und Mitternacht, Kindheit und Alter -, und in vielen Fällen ändert sich die Bedeutung eines Wortes mit dem Gesichtsausdruck des Sprechers. Nach zwei oder drei Monaten wird Keplers Zunge allmählich geschickter in der Hervorbringung der seltsamen Laute dieser Sprache, und je deutlicher sich der Brei undifferenzierter Silben in kleinere, besser kenntliche Sinneinheiten auflöst, desto schärfer und feiner wird sein Gehör für Nuancen und Satzmelodie. Bemerkenswerterweise glaubt er nun in der Sprache der Menschen Spuren des Englischen zu erkennen - nicht genau das Englisch, das er kennt, sondern verkürzte Stücke davon, Reste von englischen Wörtern, eine Art umgemodeltes Englisch, das irgendwie in die Ritzen dieser anderen Sprache eingedrungen ist. Ein Ausdruck wie zum Beispiel Land des Knappen Wassers wird zu einem einzigen Wort: Lanoliwa. Die Wilden Männer werden zu Wi-Me, und Die Flache Welt verkürzt sich zu etwas wie flow. Anfangs ist Kepler geneigt, diese Parallelen als Zufall abzutun. Schließlich kommt es vor, daß gewisse Laute verschiedener Sprachen einander überlappen, und er will seine Phantasie nicht mit ihm durchgehen lassen. Andererseits hat es den Anschein, als folge etwa jedes siebte oder achte Wort der Sprache der Menschen diesem Muster, und als Kepler schließlich seine Theorie auf die Probe stellt und Wörter erfindet, um sie an den Menschen auszuprobieren (Wörter, die ihm nicht beigebracht worden sind, sondern die er mit der gleichen Methode des Verkürzens und Zerlegens bildet, die er bei der Konstruktion der anderen verwandt hat), stellt er fest, daß Die Menschen eine Reihe dieser Wörter als ihre eigenen wiedererkennen. Von diesem Erfolg ermutigt, entwickelt Kepler gewisse Ideen über die Herkunft dieses merkwürdigen Stammes. Ungeachtet der Legende vom Mond scheint ihm sicher, daß sie aus einer frühen Vermischung von englischem und indianischem Blut hervorgegangen sein müssen. «Gestrandet in den unermeßlichen Wäldern der Neuen Welt», beschreibt Barber den Gedankengang Keplers, «von der Möglichkeit des Aussterbens bedroht, könnte eine Schar früher Siedler durchaus bei einem Indianerstamm Zuflucht gesucht haben, um ihr Überleben wider die feindlichen Mächte der Natur zu sichern. Vielleicht waren diese Indianer die aus den Legenden, die man ihm erzählt hatte, dachte Kepler. Wenn ja, dann könnte sich ein Teil von ihnen vom Hauptstamm getrennt haben und nach Westen aufgebrochen sein, um sich schließlich in Utah anzusiedeln. Er führte diese Hypothese noch einen Schritt weiter und überlegte, daß die Geschichte ihrer Herkunft wahrscheinlich nach ihrer Ankunft in Utah entstanden war, damit sie etwas hatten, woraus sie geistlichen Trost für ihre Entscheidung schöpfen konnten, sich in einer so unfruchtbaren Gegend niederzulassen. Denn nirgends sonst in der Welt, dachte Kepler, sieht die Erde dem Mond ähnlicher als hier.»
    Erst als er ihre Sprache fließend beherrscht, kommt Kepler dahinter, warum sie ihn gerettet haben. Die Zahl der Menschen nimmt ab, erklären sie ihm, und

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