Mond über Manhattan
wenn es ihnen nicht gelingt, an Zahl wieder zuzunehmen, wird das ganze Volk ins Nichts verschwinden. Stiller Gedanke, ihr weiser Mann und Anführer, der den Stamm im vorigen Winter verlassen habe, um allein in der Wüste zu leben und für ihre Erlösung zu beten, habe im Traum erfahren, daß ein toter Mann sie retten werde. Die Leiche dieses Mannes würden sie irgendwo in den Felsen in der Umgebung ihrer Siedlung finden, habe er gesagt, und wenn sie die richtigen Heilmittel an die Leiche wendeten, würde sie wieder ins Leben zurückkommen. All dies sei genau so eingetroffen, wie Stiller Gedanke es vorausgesagt habe. Sie hätten Kepler gefunden und wieder zum Leben erweckt. Er hat nun also die Aufgabe, der Vater einer Generation zu werden. Er ist der Wilde Vater, der vom Mond gefallen ist, der Zeuger von Menschenseelen, der Geistmann, der das Volk vor dem Untergang retten wird.
An dieser Stelle gerät Barbers Text arg ins Stolpern. Ohne die geringsten Gewissensbisse wird Kepler zum Eingeborenen, beschließt, bei den Menschen zu bleiben, und leistet für immer Verzicht darauf, zu Frau und Sohn zurückzukehren. Barber gerät völlig aus dem präzisen, intellektuellen Tonfall der ersten dreißig Seiten, um sich nun in mehreren langen und blumigen, lasziven sexuellen Phantasien zu ergehen; hier ist die masturbatorische Lust des Teenagers mit ihm durchgegangen. Die Frauen ähneln weniger nordamerikanischen Indianerinnen als vielmehr polynesischen Sexspielzeugen; es sind schöne, barbrüstige Mädchen, die sich Kepler mit lachender, freudiger Hingabe schenken. Eine reine Phantasiewelt: ein Gemeinwesen paradiesischer Unschuld, bevölkert von edlen Wilden, die mit sich und der Welt in vollkommener Harmonie leben. Bald gelangt Kepler zu der Überzeugung, daß ihre Lebensart der seinen ungeheuer überlegen ist. Er entsagt den Verlockungen der Zivilisation des neunzehnten Jahrhunderts und geht in die Steinzeit; heiter tut er sich mit den Menschen zusammen.
Das erste Kapitel endet mit der Geburt von Keplers erstem Menschenkind, und zu Beginn des nächsten Kapitels sind fünfzehn Jahre vergangen. Wir sind wieder auf Long Island und erleben durch die Augen von John Kepler junior, der jetzt achtzehn Jahre alt ist, die Beerdigung von Keplers amerikanischer Ehefrau. Entschlossen, das Rätsel um das Verschwinden seines Vaters zu lösen, bricht der junge Mann am nächsten Morgen in echter Heldenmanier auf, um den Rest seines Lebens der Suche nach seinem Vater zu widmen. Er reist nach Utah, wo er die nächsten anderthalb Jahre durch die Wildnis wandert und nach Hinweisen sucht. Mit wundersamem Glück (in Barbers Darstellung völlig unplausibel) stößt er schließlich in den Felsen auf die Siedlung der Menschen. Ihm ist nie in den Sinn gekommen, daß sein Vater noch am Leben sein könnte, aber siehe da, als er dem bärtigen Häuptling und Erlöser des kleinen Stammes, der jetzt fast hundert Seelen zählt, vorgestellt wird, erkennt er in diesem Mann John Kepler. Fassungslos platzt er heraus, er sei Keplers verloren geglaubter amerikanischer Sohn, doch Kepler bleibt ruhig und gelassen und gibt vor, ihn nicht zu verstehen. «Ich bin ein Geistmann, der vom Mond hierhergekommen ist», sagt er, «und diese Leute sind die einzige Familie, die ich je gehabt habe. Du kannst gerne zu essen haben und die Nacht bei uns schlafen, aber morgen früh mußt du uns verlassen und deine Reise fortsetzen.» Niedergeschmettert von dieser abweisenden Haltung, keimen in dem Sohn Rachegedanken auf, und mitten in der Nacht gleitet er von seinem Lager, schleicht sich an den schlafenden Kepler heran und stößt ihm ein Messer ins Herz. Noch ehe Alarm gegeben werden kann, entflieht er in die Dunkelheit und verschwindet.
Es gibt nur einen Zeugen dieses Verbrechens, einen zwölfjährigen Jungen namens Jocomin (Wilde Augen), Keplers Lieblingssohn unter den Menschen. Drei Tage und drei Nächte setzt Jocomin dem Mörder nach, ohne ihn jedoch zu finden. Am Morgen des vierten Tages erklettert er eine Hochebene, um das Land ringsum besser überblicken zu können, und dort begegnet er, kaum daß er die Hoffnung aufgegeben hat, niemand anderem als Stiller Gedanke, dem alten Medizinmann, der vor Jahren den Stamm verlassen hat, um als Einsiedler in der Wüste zu leben. Stiller Gedanke nimmt Jocomin an Sohnes Statt auf und führt ihn schrittweise in die Geheimnisse seiner Kunst ein, lehrt den Jungen über lange und schwierige Jahre die magischen Kräfte der Zwölf
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