Mond über Manhattan
Verwandlungen. Jocomin ist ein williger und fähiger Schüler. Nicht nur lernt er, wie man Kranke heilt und mit den Göttern in Verbindung tritt, sondern nach sieben Jahren steten Bemühens gelingt es ihm endlich, in das Geheimnis der Ersten Verwandlung einzudringen und die Kräfte von Körper und Geist so in seine Gewalt zu bekommen, daß er sich in eine Eidechse verwandeln kann. Die anderen Verwandlungen folgen nun rasch aufeinander: er wird eine Schwalbe, ein Falke, ein Geier; er wird ein Stein und ein Kaktus; er wird ein Maulwurf, ein Kaninchen und eine Heuschrecke; er wird ein Schmetterling und eine Schlange; und als letztes meistert er auch noch die schwierigste der Verwandlungen und wird ein Kojote. Inzwischen lebt Jocomin bereits neun Jahre mit Stiller Gedanke. Nachdem der alte Mann seinem Adoptivsohn sein ganzes Wissen vermittelt hat, teilt er Jocomin mit, nun sei für ihn der Augenblick zum Sterben gekommen. Ohne ein weiteres Wort hüllt er sich in seine zeremoniellen Gewänder und fastet drei Tage lang, und dann fliegt sein Geist aus seinem Körper und reist zum Mond, wo nach dem Tod die Seelen der Menschen wohnen.
Jocomin kehrt in die Siedlung zurück und lebt dort einige Jahre lang als Häuptling. Doch schwere Zeiten sind über Die Menschen gekommen, auf Dürre folgt eine Seuche, auf die Seuche folgt Uneinigkeit, und Jocomin hat einen Traum, in dem er erfährt, daß das Glück sich seinem Stamm erst dann wieder zuwenden wird, wenn der Tod seines Vaters gerächt worden ist. Tags darauf verläßt Jocomin, nachdem er sich mit dem Ältestenrat beraten hat, die Menschen und zieht nach Osten, begibt sich in die Welt der Wilden Männer, um John Kepler junior zu suchen. Unter dem Namen Jack Moon durchquert er das Land und kommt schließlich nach New York, wo er Arbeit bei einer Baufirma findet, die auf die Errichtung von Wolkenkratzern spezialisiert ist. Er wird Mitglied der obersten Mannschaft am Woolworth Building, einem architektonischen Wunderwerk, das fast zwanzig Jahre lang als höchstes Gebäude der Welt gelten sollte. Jack Moon ist ein ausgezeichneter Arbeiter, den auch die allergrößten Höhen nicht schrecken können, und so erwirbt er sich schnell den Respekt seiner Kollegen. Außerhalb der Arbeit jedoch ist er ein Einzelgänger, der keine Freunde hat. Seine ganze Freizeit widmet er der Suche nach seinem Halbbruder, und bis er ihn endlich aufgespürt hat, sind fast zwei Jahre vergangen. John Kepler junior ist ein wohlhabender Geschäftsmann geworden. Er lebt mit seiner Frau und einem sechs Jahre alten Sohn in einer Villa an der Pierrepont Street in Brooklyn Heights und wird jeden Morgen in einem langen schwarzen Auto zur Arbeit gefahren. Wochenlang beobachtet Jack Moon das Haus; zunächst hat er vor, Kepler schlicht und einfach umzubringen, dann aber kommt er zu dem Schluß, es sei eine angemessenere Vergeltung, Keplers Sohn zu entführen und in das Land der Menschen zu bringen. Unerkannt führt er die Tat aus; bei hellichtem Tag entreißt er eines Nachmittags den Jungen seinem Kindermädchen, womit das vierte Kapitel von Barbers Roman endet.
Mit dem Jungen (der ihm inzwischen tief ergeben ist) nach Utah zurückgekehrt, muß Jocomin feststellen, daß sich dort alles verändert hat. Die Menschen sind verschwunden, ihre leeren Häuser lassen keinerlei Anzeichen von Leben erkennen. Die nächsten sechs Monate sucht er die gesamte Gegend nach ihnen ab, jedoch ganz erfolglos. Schließlich erkennt er, daß sein Traum ihn getrogen hat, und akzeptiert die Tatsache, daß sein Volk ausgestorben ist. Mit Trauer im Herzen beschließt er, dort zu bleiben und für den Jungen wie für seinen eigenen Sohn zu sorgen, wobei er ständig hofft, es möge eine wundersame Erneuerung eintreten. Er tauft den Jungen in Numa (Neuer Mann) um und versucht, nicht den Mut zu verlieren. Sieben Jahre vergehen. Er gibt die Geheimnisse, die er von Stiller Gedanke gelernt hat, an seinen Adoptivsohn weiter, und nach drei weiteren Jahren unentwegter Arbeit gelingt es ihm, die Dreizehnte Verwandlung auszuführen. Jocomin verwandelt sich in eine Frau, eine junge und fruchtbare Frau, die den sechzehnjährigen Jüngling verführt. Neun Monate später werden Zwillinge geboren, ein Junge und ein Mädchen, und ausgehend von diesen beiden Kindern werden Die Menschen dereinst wieder das Land bevölkern.
Darauf verlagert sich der Schauplatz wieder nach New York, wo wir Kepler junior verzweifelt nach seinem verlorenen Sohn suchen sehen. Alle
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