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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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den Schmerzmitteln in seinem Blut, musterte ich die Konturen seiner Lider, konzentrierte mich auf die Stelle zwischen Brauen und Wimpern, und mit einemmal erkannte ich, daß ich mich selbst ansah. Barber hatte die gleichen Augen wie ich. Jetzt, nachdem sein Gesicht eingefallen war, wurde es mir möglich, das zu sehen. Wir glichen einander, die Ähnlichkeit war unverkennbar. Als mir das einmal bewußt war, als diese Wahrheit mir endlich entgegengeschleudert wurde, blieb mir keine Wahl mehr, als sie zu akzeptieren. Ich war Barbers Sohn, und ich wußte es ohne die leiseste Spur eines Zweifels.
    Dann schien zwei Wochen lang alles gutzugehen. Die Ärzte waren optimistisch, und wir begannen uns auf den Tag zu freuen, an dem der Gips entfernt werden sollte. Irgendwann Anfang August jedoch verschlechterte Barbers Zustand sich plötzlich. Er bekam irgendeine Infektion, und die Medizin, die man ihm gab, rief eine allergische Reaktion hervor, wodurch sein Blutdruck auf kritische Werte stieg. Weitere Tests ergaben, daß er Diabetes hatte, was vorher noch nie diagnostiziert worden war; und als die Ärzte ihn auf weitere Schädigungen untersuchten, wurde die Liste seiner Krankheiten und Probleme immer länger: Angina, Gicht im Anfangsstadium, Kreislaufbeschwerden, und weiß der Himmel was noch alles. Sein Körper schien einfach nicht mehr mitzumachen. Er hatte viel einstecken müssen, und jetzt brach der Mechanismus zusammen. Der enorme Gewichtsverlust hatte seine Abwehrkräfte geschwächt, er konnte keinen Widerstand mehr leisten, seine Blutkörperchen waren nicht mehr zur Gegenwehr bereit. Um den 20. August herum sagte er mir, er wisse, daß er sterben werde, aber ich wollte nichts davon hören. «Rühr dich nicht», sagte ich. «Du kommst noch hier raus, bevor das erste Spiel der World Series angepfiffen wird.»
    Ich hatte keine Empfindungen mehr. Ich war wie betäubt von der Anspannung, ihn verfallen zu sehen, und in der dritten Augustwoche lief ich wie in Trance herum. Nur eins war jetzt für mich noch wichtig: eine gelassene Fassade aufrechtzuerhalten. Keine Tränen, keine Verzweiflungsausbrüche, kein Nachlassen des Willens. Ich strahlte Hoffnung und Zuversicht aus, doch innerlich muß ich gewußt haben, daß es in Wirklichkeit keine Hoffnung mehr gab. Das wurde mir jedoch, wenn auch auf höchst indirekte Weise, erst ganz am Ende bewußt. Ich war zu einem späten Abendessen in ein Lokal gegangen. Eines der Tagesgerichte an diesem Abend war zufällig Hühnerfrikassee, ein Gericht, das ich seit meiner Kindheit, vielleicht sogar seit dem Tod meiner Mutter, nicht mehr gegessen hatte. Sobald ich es auf der Speisekarte erblickte, wußte ich, daß ich an diesem Abend nichts anderes würde essen können. Ich übermittelte der Kellnerin meine Bestellung, und während der nächsten drei oder vier Minuten gab ich mich der Erinnerung an die Bostoner Wohnung hin, in der meine Mutter und ich gelebt hatten; zum erstenmal seit Jahren sah ich wieder die winzige Küche vor mir, in der wir beide gemeinsam unsere Mahlzeiten eingenommen hatten. Dann kam die Kellnerin zurück und sagte, Hühnerfrikassee sei ausgegangen. Im Grunde war das ein Nichts. Ein bloßes Staubkorn im großen Plan der Dinge, ein unendlich kleines Stückchen Antimaterie, und doch hatte ich plötzlich das Gefühl, als ob das Dach über mir zusammenstürzte. Es gab kein Hühnerfrikassee mehr. Die Nachricht, einem Erdbeben in Kalifornien seien soeben zwanzigtausend Menschen zum Opfer gefallen, hätte mich nicht gewaltiger aus der Fassung bringen können. Mir traten wahrhaftig Tränen in die Augen, und da erst, als ich in diesem Lokal mit meiner Enttäuschung kämpfte, begriff ich, wie zerbrechlich meine Welt geworden war. Das Ei entglitt meinen Fingern, und früher oder später würde es auf den Boden fallen.
    Barber starb am 4. September, nur drei Tage nach jenem Vorfall in dem Restaurant. Er wog da nur noch 210 Pfund, und es war, als sei die Hälfte von ihm bereits verschwunden, als sei es, nachdem der Prozeß einmal begonnen hatte, nicht mehr zu vermeiden gewesen, daß auch noch die zweite Hälfte verschwinden würde. Ich hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen, aber ich konnte nur an Kitty denken. Es war fünf Uhr morgens, als ich sie anrief, und noch ehe sie den Hörer abnahm, wußte ich, daß ich sie nicht nur anrief, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen. Ich mußte herausfinden, ob sie bereit war, es noch einmal mit mir zu versuchen.
    «Ich weiß, daß du noch

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