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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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schläfst», sagte ich, «aber bitte leg nicht auf, bis du gehört hast, was ich dir zu sagen habe.»
    «M. S.?» Ihre Stimme klang gedämpft, halb betäubt vor Verwirrung. «Bist du das, M. S.?»
    «Ich bin in Chicago. Sol ist vor einer Stunde gestorben, und ich habe sonst niemanden, mit dem ich reden kann.»
    Ich brauchte einige Zeit, um ihr die Sache zu erzählen. Anfangs wollte sie mir nicht glauben, und während ich ihr nach und nach die Einzelheiten mitteilte, wurde mir klar, wie unwahrscheinlich sich das alles anhörte. Ja, sagte ich, er fiel in ein offenes Grab und brach sich das Rückgrat. Ja, er war wirklich mein Vater. Ja, er ist wirklich heute nacht gestorben. Ja, ich rufe von einem Münztelefon im Krankenhaus an. Dann gab es eine kurze Unterbrechung, als die Vermittlung mich aufforderte, weitere Münzen einzuwerfen, und als die Leitung wieder freigegeben war, konnte ich Kitty am anderen Ende schluchzen hören.
    «Der arme Sol», sagte sie. «Der arme Sol und der arme M. S. Wie schrecklich.»
    «Tut mir leid, daß ich dir das sagen mußte. Aber ich hätte es nicht richtig gefunden, dich nicht anzurufen.»
    «Nein, ich bin froh, daß du das getan hast. Es ist nur so schwer, sich damit abzufinden. O Gott, M. S. wenn du nur wüßtest, wie lange ich darauf gewartet habe, von dir zu hören.»
    «Ich habe alles kaputtgemacht, stimmt’s?»
    «Es ist nicht deine Schuld. Du kannst doch nichts für deine Gefühle. Kein Mensch kann was dafür.»
    «Du hast nicht erwartet, noch mal von mir zu hören, oder?»
    «Jetzt nicht mehr. In den ersten Monaten habe ich an nichts anderes gedacht. Aber so kann man unmöglich leben. Nach und nach habe ich dann die Hoffnung aufgegeben.»
    «Meine Liebe zu dir hat keine Minute lang aufgehört. Das weißt du doch?»
    Wieder einmal war es am anderen Ende still, und dann hörte ich, wie sie von neuem zu schluchzen anfing - ein todunglückliches Schluchzen, das sie schier zu ersticken schien. «Ach Gott, M. S. was versuchst du mir da anzutun? Seit Juni habe ich nichts mehr von dir gehört, und dann rufst du mich um fünf Uhr morgens aus Chicago an, zerreißt mir das Herz mit dem, was Sol zugestoßen ist - und dann fängst du an, von Liebe zu reden? Das ist nicht fair. Du hast nicht das Recht dazu. Nicht jetzt.»
    «Ich kann es ohne dich nicht mehr aushalten. Ich hab’s versucht, aber es geht nicht.»
    «Nun, ich habe es auch versucht, und es geht.»
    «Das glaube ich dir nicht.»
    «Es war auch für mich hart, M. S. Ich konnte nur weiterleben, indem ich mich genauso hart machte.»
    «Was willst du mir damit sagen?»
    «Es ist zu spät. Ich kann mich jetzt nicht mehr darauf einlassen. Du hast mich fast umgebracht, und das will ich nicht noch einmal riskieren.»
    «Du hast einen anderen gefunden, stimmt’s?»
    «Was hätte ich deiner Meinung nach in all den Monaten tun sollen, während du dich irgendwo im Land herumgetrieben und versucht hast, zu einer Entscheidung zu kommen?»
    «Du liegst jetzt mit ihm im Bett, stimmt’s?»
    «Das geht dich nichts an.»
    «Stimmt doch, oder? Sag’s doch.»
    «Wenn du’s wissen willst: es stimmt nicht. Aber trotzdem hast du nicht das Recht, mich danach zu fragen.»
    «Ist mir egal, wer es ist. Das macht keinen Unterschied.»
    «Hör auf, M. S. Ich hält’s nicht aus, ich will kein Wort mehr hören.»
    «Ich flehe dich an, Kitty. Laß mich zu dir zurückkommen.»
    «Leb wohl, Marco. Paß auf dich auf. Bitte, paß auf dich auf.»
    Und damit hängte sie ein.
    Ich begrub Barber neben meiner Mutter. Es machte ziemliche Schwierigkeiten, ihn auf den Westlawn Friedhof zu bringen - einen einsamen Nichtjuden inmitten von russischen und deutschen Juden; aber da im Familiengrab der Foggs noch eine Stelle frei war, und da ich ja praktisch das Familienoberhaupt und somit Eigentümer der Grabstelle war, konnte ich mich schließlich durchsetzen. Tatsächlich legte ich meinen Vater in das Grab, das für mich vorgesehen war. In Anbetracht all dessen, was in den letzten Monaten geschehen war, hielt ich das für das mindeste, was ich für ihn tun konnte.
    Nach dem Gespräch mit Kitty brauchte ich jede Ablenkung von meinen Gedanken, die ich finden konnte, und so halfen mir, da ich nichts anderes hatte, die Beerdigungsvorbereitungen über die nächsten vier Tage hinweg. Zwei Wochen vor seinem Tod hatte Barber die letzten Reste seiner Kraft aufgeboten und sein ganzes Vermögen mir gegeben, so daß mir immerhin genug Geld zur Verfügung stand. Testamente seien zu

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