Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
haltmachen wollte ich erst, wenn mir die Augen zufielen, und ich verfolgte die weiße Linie des Highway, als sei sie das letzte, was mich noch mit der Erde verbände. Ich befand mich irgendwo mitten in Nebraska, als ich schließlich bei einem Motel vorfuhr, um dort zu übernachten. Ich erinnere mich an das Lärmen der Grillen in der Dunkelheit, das Klopfen der Motten, die ans Fliegengitter stießen, das leise Bellen eines Hundes in einem fernen Winkel der Nacht.
    Am Morgen erfuhr ich, daß der Zufall mich in die richtige Richtung geführt hatte. Ohne darüber nachzudenken, war ich der Straße nach Westen gefolgt, und jetzt, da ich einmal auf dem Weg war, fühlte ich mich plötzlich ruhiger und besonnener. Ich beschloß auszuführen, was Barber und ich uns vorgenommen hatten, und das Bewußtsein, daß ich ein Ziel hatte, daß ich nicht vor etwas davonlief, sondern auf etwas zuging, gab mir den Mut, mir einzugestehen, daß ich im Grunde doch nicht tot sein wollte.
    Ich glaubte nicht, daß ich die Höhle jemals finden würde (eine Überzeugung, an der ich bis zum Ende festhielt), aber mir schien die Suche als solche bereits hinlänglich: Das war etwas, das alles andere auslöschte. Ich hatte über dreizehntausend Dollar in meiner Tasche, nichts konnte mich also daran hindern. Ich konnte so lange suchen, bis sämtliche Möglichkeiten erschöpft waren. Ich fuhr bis ans Ende des flachen Landes, übernachtete in Denver und fuhr dann weiter nach Mesa Verde, wo ich drei oder vier Tage in den gewaltigen Ruinen einer ausgestorbenen Zivilisation herumkletterte: Ich konnte mich einfach nicht davon losreißen. Nie hätte ich gedacht, daß irgend etwas in Amerika so alt sein könnte, und als ich dann nach Utah hineinfuhr, glaubte ich allmählich ein wenig von dem zu begreifen, wovon Effing geredet hatte. Natürlich war ich auch von der Landschaft beeindruckt (jeder ist davon beeindruckt), vor allem aber begann die ungeheure Größe und Leere des Landes mein Zeitgefühl zu beeinflussen. Die Gegenwart schien nicht mehr dieselbe Rolle zu spielen. Minuten und Stunden waren in dieser Gegend zu kleine Maßeinheiten; wenn man die Dinge um sich her betrachtete, konnte man nur in Jahrhunderten denken, und man sah sich zu der Erkenntnis gezwungen, daß ein Jahrtausend nicht mehr ist als ein Ticken der Uhr. Zum erstenmal in meinem Leben empfand ich die Erde als einen Planeten, der durch den Weltraum kreist. Sie war nicht groß, entdeckte ich, sondern klein - geradezu mikroskopisch klein. Nichts im ganzen Universum ist kleiner als die Erde.
    Ich nahm mir ein Zimmer im Comb Ridge Motel in der kleinen Stadt Bluff, und von dort aus erkundete ich einen Monat lang die Umgebung. Ich erkletterte Felsen, durchstreifte die zerklüfteten Täler der Canyons, legte Hunderte von Meilen mit dem Wagen zurück. Höhlen entdeckte ich dabei jede Menge, aber keine davon sah aus, als sei sie einmal bewohnt gewesen. Dennoch war ich in diesen Wochen glücklich, fast heiter in meiner Einsamkeit. Um unerfreulichen Szenen mit den Einwohnern von Bluff aus dem Weg zu gehen, trug ich die Haare kurz geschnitten, und meine Behauptung, ich sei Student der Geologie, schien jegliches Mißtrauen, das sie mir anfangs wohl entgegenbrachten, zu beschwichtigen. Da ich keine anderen Pläne hatte, als meine Suche fortzusetzen, hätte ich noch viele Monate so weitermachen können: allmorgendlich in Sally’s Kitchen frühstücken und dann bis zum Einbruch der Dunkelheit durch die Wildnis streifen. Eines Tages jedoch fuhr ich weiter hinaus als sonst, am Monument Valley vorbei bis zu dem Navajo-Handelsposten Oljeto. Das Wort bedeutete «Mond im Wasser», was den Ort für mich schon reizvoll genug machte; aber in Bluff hatte mir jemand erzählt, daß Mr. und Mrs. Smith, die Leiter dieses Handelspostens, im weiten Umkreis die besten Kenner der Geschichte dieser Gegend seien. Mrs. Smith war die Enkelin oder Urenkelin von Kit Carson, und das Haus, das sie mit ihrem Mann bewohnte, war vollgestopft mit Navajodecken, Keramik und indianischen Gebrauchsgegenständen, das reinste Museum. Ich verbrachte ein paar Stunden mit den beiden, trank Tee in ihrem kühlen abgedunkelten Wohnzimmer, und schließlich fand ich Gelegenheit, sie zu fragen, ob sie jemals von einem Mann namens George Ugly Mouth gehört hätten; aber sie schüttelten beide den Kopf und sagten nein. Und was ist mit den Gresham-Brüdern? fragte ich. Ob sie von denen schon mal gehört hätten. Aber sicher, sagte Mr. Smith, das waren

Weitere Kostenlose Bücher