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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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schlimmer, ich ging sogar so weit, sie eines Tages in eine Musikalienhandlung mitzunehmen, um herauszufinden, wieviel sie wert sei. Als ich erfuhr, daß ich damit nicht einmal eine Monatsmiete bezahlen könnte, gab ich den Gedanken auf. Das war aber auch das einzige, was mir die Schmach ersparte, die Sache auszuführen. Im Lauf der Zeit wurde mir klar, wie nahe daran ich gewesen war, eine unverzeihliche Sünde zu begehen. Die Klarinette war meine letzte Verbindung mit Onkel Victor, und da es die letzte war, da keine anderen Spuren mehr von ihm geblieben waren, wohnte ihr die gesamte Kraft seiner Seele inne. Wann immer ich sie betrachtete, spürte ich diese Kraft in mir selbst. Ich konnte mich daran festhalten wie an einem Wrackteil, das mich über Wasser hielt.
    Einige Tage nach meinem Besuch in der Musikalienhandlung brachte mir ein kleines Mißgeschick beinahe den Untergang. Die zwei Eier, die ich in einen Topf mit Wasser legen und für meine tägliche Mahlzeit kochen wollte, glitten mir aus den Fingern und zerbrachen auf dem Boden. Es waren die letzten beiden Eier, die ich gerade vorrätig hatte, und ich empfand den Verlust als das Grausamste und Furchtbarste, was mir je zugestoßen war. Die Eier schlugen mit einem häßlichen Platsch auf. Ich sehe mich noch entsetzt dastehen, während sie auf dem Boden ausliefen. Der goldene, durchsichtige Inhalt sickerte in die Ritzen, und plötzlich war alles verdreckt von einem schwabbelnden Brei aus Schleim und Schalen. Ein Dotter hatte den Sturz wunderbarerweise überlebt, doch als ich mich bückte, um ihn aufzuschaufeln, glitt er unter dem Löffel weg und zerplatzte. Es kam mir vor, als explodiere ein Stern, als sei soeben eine große Sonne gestorben. Das Gelb verlief sich über das Weiß, bildete Strudel, wurde zu einem riesigen Nebel, zu den Resten interstellarer Gase. Das war zuviel für mich - der letzte winzige Tropfen. Als das geschah, setzte ich mich tatsächlich hin und weinte.
    Bestrebt, meine Gefühle wieder in den Griff zu bekommen, ging ich aus und leistete mir ein Essen im Moon Palace. Es half nichts. Verschwendung war an die Stelle von Selbstmitleid getreten, und ich verabscheute mich dafür, daß ich dem Impuls nachgegeben hatte. Noch widerwärtiger wurde ich mir, als ich dem perversen Wortspiel nicht widerstehen konnte und mir als erstes eine Suppe mit verlorenen Eiern bestellte. Danach aß ich Bratknödel, einen Teller scharf gewürzte Garnelen und trank dazu eine Flasche chinesisches Bier. Das Essen hätte mir guttun können, aber nein, ich vergiftete es mir mit meinen Gedanken. Der Reis kam mir fast wieder hoch. Das ist kein Essen, sagte ich mir, sondern eine Henkersmahlzeit, das letzte, was man einem Verurteilten vorsetzt, bevor man ihn zum Galgen schleppt. Während ich mich zwang, es zu kauen und hinunterzuwürgen, fiel mir ein Satz aus Raleighs letztem Brief an seine Frau ein, geschrieben am Vorabend seiner Hinrichtung: Mein Gehirn ist zerbrochen. Nichts hätte treffender sein können als diese Worte. Ich stellte mir den abgehackten, von seiner Frau in einem Glaskasten aufbewahrten Kopf Raleighs vor. Ich stellte mir den von einem Stein zerschmetterten Kopf Cyranos vor. Dann stellte ich mir vor, wie mein eigener Kopf aufplatzte und zerspritzte wie die Eier, die in meinem Zimmer auf den Boden gefallen waren.
    Ich fühlte mein Hirn auslaufen. Ich sah mich selbst zerbrochen.
    Ich gab dem Kellner ein unmäßiges Trinkgeld und ging dann wieder zurück. Als ich in den Hausflur trat, sah ich routinemäßig in meinen Briefkasten und merkte, daß etwas darin war. Von den Räumungsaufforderungen abgesehen, war es in diesem Monat die erste Post für mich. Einen kurzen Augenblick lang malte ich mir aus, irgendein unbekannter Wohltäter hätte mir einen Scheck geschickt, aber dann untersuchte ich den Brief und stellte fest, daß er lediglich eine Aufforderung anderer Art enthielt. Am 16. September sollte ich mich zur Musterung melden. Im Wissen um meinen derzeitigen Zustand nahm ich das ziemlich ruhig auf. Obwohl es ohnehin kaum noch eine Rolle zu spielen schien, wo der Stein mich treffen sollte. New York oder Indochina, sagte ich mir, am Ende läuft es auf dasselbe hinaus. Wenn Kolumbus Amerika mit Cathay verwechseln konnte, wie durfte ich dann in geographischen Dingen kleinlich sein? Ich betrat meine Wohnung und schob den Brief unter Onkel Victors Klarinettenkasten. Und binnen Minuten war es mir gelungen, ihn völlig zu vergessen.
    Ich hörte jemanden an die Tür

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