Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
meiner Wohnung stand, war es zu spät. Ich war so gedankenverloren, daß ich auf ihr Klopfen nicht reagierte. Sie erzählte mir, sie habe fünf bis zehn Minuten vor meiner Tür gestanden. Sie hörte mich da drinnen mit mir selbst reden (aber so gedämpft, daß sie nichts verstehen konnte), und dann begann ich anscheinend plötzlich zu singen - ein verrückter, unmelodischer Singsang, sagte sie -, woran ich mich aber überhaupt nicht erinnern kann. Sie klopfte noch einmal, doch ich rührte mich nicht. Da sie mir nicht lästig fallen wollte, gab sie schließlich auf und ging.
    So hat Kitty Wu mir die Sache erklärt. Anfangs hörte sich das recht plausibel an, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger überzeugend fand ich ihre Geschichte. «Ich verstehe noch immer nicht, warum du gekommen bist», sagte ich. «Wir haben uns doch nur dieses eine Mal getroffen, und da kann ich nicht gerade Eindruck auf dich gemacht haben. Warum hast du dir wegen jemand, den du gar nicht kennst, solche Mühe gemacht?»
    Kitty sah zu Boden. «Weil du mein Bruder warst», sagte sie ganz leise.
    «Das war doch nur ein Scherz. Wegen eines Scherzes macht man doch nicht solche Umstände.»
    «Nein, wahrscheinlich nicht», sagte sie und zuckte leichthin die Achseln. Ich dachte, sie wollte noch etwas sagen, aber nach einigen Sekunden schwieg sie noch immer.
    «Nun?» sagte ich. «Warum hast du es getan?»
    Sie sah kurz zu mir auf und fixierte dann wieder den Boden. «Weil ich dachte, du seist in Gefahr», sagte sie. «Ich dachte, du seist in Gefahr, und mir hatte noch nie jemand so leid getan wie du.»
    Am nächsten Tag kam sie wieder zu meiner Wohnung, aber da war ich schon weg. Die Tür war jedoch nur angelehnt, und als sie sie aufstieß und über die Schwelle trat, sah sie Fernandez, der wütend in meinem Zimmer herumfuhrwerkte und halblaut fluchend meine Sachen in Müllsäcke stopfte. Nach Kittys Schilderung sah er aus wie jemand, der das Zimmer eines eben an der Pest gestorbenen Menschen aufzuräumen versuchte: Er bewegte sich angeekelt und wie in Panik, wagte meine Sachen kaum anzufassen vor Angst, sich anzustecken. Sie fragte Fernandez, ob er wüßte, wohin ich gegangen sei, aber viel konnte er ihr nicht sagen. Ich sei ein verrückter Spinner, sagte er, und er könne sich allenfalls vorstellen, daß ich mich in irgendein Loch verkrochen hätte, um zu sterben. Danach hatte Kitty genug, sie ging wieder auf die Straße, und von der nächsten Telefonzelle aus rief sie Zimmer an. Seine neue Wohnung lag im West Village an der Bank Street, aber als er ihren Bericht hörte, ließ er alles stehen und liegen und jagte los, um sich mit ihr zu treffen. Und so wurde ich dann schließlich gerettet: weil die beiden loszogen und mich suchten. Das wußte ich damals natürlich noch nicht, aber mit meinem heutigen Wissen ist es mir unmöglich, an diese Tage zurückzudenken, ohne daß mich eine heftige Sehnsucht nach meinen Freunden überkommt. Die Realität dessen, was ich erlebt habe, wird dadurch in gewisser Hinsicht verändert. Ich war von der Klippe gesprungen, und kurz bevor ich auf dem Boden aufschlug, geschah etwas ganz Außerordentliches: Ich erfuhr, daß es Leute gab, die mich liebten. Wenn man so geliebt wird, sieht alles gleich ganz anders aus. Der Schrecken des Falls wird dadurch nicht gemindert, aber man sieht diesen Schrecken in einem neuen Licht. Ich war von der Klippe gesprungen, und dann griff etwas nach mir und fing mich im allerletzten Augenblick auf. Dieses Etwas nenne ich Liebe. Sie ist das einzige, was den Menschen in seinem Fall aufhalten kann, das einzige, was mächtig genug ist, die Gesetze der Schwerkraft aufzuheben.
    Ich hatte keine klare Vorstellung davon, was ich nun tun sollte. Als ich meine Wohnung an jenem Morgen verließ, ging ich einfach los, wohin meine Schritte mich tragen wollten. Falls ich überhaupt etwas gedacht habe, dann nur, daß der Zufall entscheiden sollte, was passierte, daß ich mich von willkürlichen Ereignissen und Eingebungen treiben lassen wollte. Meine ersten Schritte führten nach Süden, und so ging ich weiter in dieser Richtung, zumal mir nach ein paar Blocks klar wurde, daß es ohnehin wohl das Beste wäre, meine Nachbarschaft zu verlassen. Man beachte, wie der Stolz meinen Entschluß schwächte, über mein Elend erhaben zu bleiben; Stolz und Schamgefühl. Ein Teil von mir war entsetzt von dem, was ich mit mir hatte geschehen lassen, und ich wollte nicht Gefahr laufen, irgendeinen Bekannten

Weitere Kostenlose Bücher