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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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einen Wolf. Und dann wird der Wolf zu einem Sprechautomaten. Du hast es wohl mit dem Mund? Erst das Essen, dann das Reden - in den Mund hinein und wieder heraus. Aber das Beste, was man mit dem Mund machen kann, vergißt du. Ich bin schließlich deine Schwester, und ohne einen Abschiedskuß kommst du mir hier nicht weg.»
    Ich wollte mich entschuldigen, aber noch ehe ich ein Wort herausbringen konnte, stand Kitty auf den Zehenspitzen, legte ihre Hand auf meinen Nacken und küßte mich - sehr zärtlich, fast als hätte sie Mitleid mit mir. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Sollte ich das nun als echten Kuß auffassen, oder gehörte das auch noch mit zum Spiel? Ehe ich zu einer Entscheidung kam, stieß ich von ungefähr mit dem Rücken an die Tür, und die sprang auf. Ich glaubte darin eine Botschaft zu erkennen, einen heimlichen Hinweis darauf, daß die Sache zu einem Ende gekommen sei, und tappte daher wortlos rückwärts aus der Tür, und als meine Füße die Schwelle überschritten hatten, drehte ich mich um und ging.
    Danach gab es keine Gratismahlzeiten mehr. Als am 13. August die zweite Räumungsaufforderung eintraf, besaß ich noch ganze siebenunddreißig Dollar. Es war übrigens der Tag, an dem die Astronauten zu ihrer Konfettiparade nach New York kamen. Das Stadtreinigungsamt erklärte hinterher, im Verlauf der Feierlichkeiten seien dreihundert Tonnen Müll auf die Straßen geworfen worden. Dies sei absoluter Rekord, hieß es, die größte Parade in der Geschichte der Welt. Ich selbst hielt mich von derlei fern. Da ich nicht wußte, wohin ich mich noch wenden konnte, verließ ich meine Wohnung so selten wie möglich und versuchte, mir den Rest meiner Kräfte zu bewahren. Ab und zu ein rascher Einkauf unten an der Ecke und dann wieder zurück, sonst nichts. Von den Packpapiertüten, die ich aus dem Supermarkt mitbrachte und mit denen ich mich abwischte, bekam ich einen wunden Hintern; doch am meisten litt ich unter der Hitze. Die Luft in der Wohnung war unerträglich, sie stand wie in einem Brutkasten und lastete Tag und Nacht auf mir, und ganz gleich, wie weit ich die Fenster aufriß, ich konnte keinen Lufthauch dazu bewegen, ins Zimmer zu kommen. Aus meinen Poren strömte es unaufhörlich. Schon wenn ich nur saß, brach mir der Schweiß aus, und bei der geringsten Bewegung floß er in Strömen. Ich trank so viel Wasser wie möglich. Ich badete kalt, hielt meinen Kopf unter den Wasserhahn, preßte nasse Handtücher auf Gesicht, Hals und Handgelenke. Das brachte zwar kaum Erleichterung, aber immerhin konnte ich mich so noch sauber halten. Die Seife im Badezimmer war inzwischen zu einem kleinen weißen Scheibchen geschrumpft, und das mußte ich mir zum Rasieren aufsparen. Da mein Vorrat an Rasierklingen aber auch schon knapp wurde, beschränkte ich mich auf zwei Rasuren pro Woche, die ich sorgfältig auf die Tage legte, an denen ich meine Einkäufe machte. Obwohl es vermutlich gar nichts besagte, tröstete mich der Gedanke, daß es mir gelang, äußerlich weiter gepflegt zu erscheinen.
    Alles kam auf die Planung meines nächsten Schrittes an. Aber genau das machte mir die größten Schwierigkeiten, ich schaffte es einfach nicht mehr. Die Fähigkeit, vorauszudenken, war mir abhanden gekommen, und sosehr ich mich auch bemühte, mir die Zukunft vorzustellen, ich konnte sie nicht sehen, ich konnte überhaupt nichts sehen. Die einzige Zukunft, die mir je gehört hatte, war die Gegenwart, in der ich jetzt lebte, und die Mühe, die es kostete, mich in dieser Gegenwart zu halten, hatte nach und nach alles andere verdrängt. Mir waren die Ideen ausgegangen. Ein Augenblick entfaltete sich aus dem anderen, und in jedem Augenblick stand die Zukunft so zweifelhaft vor mir wie ein unbeschriebenes Blatt. Wenn das Leben eine Geschichte war, wie Onkel Victor mir oft gesagt hatte, und wenn jeder Mensch der Autor seiner Geschichte war, dann erfand ich meine nach und nach. Ich arbeitete ohne Konzept, schrieb die Sätze hin, wie sie mir gerade einfielen, und lehnte es ab, mir über den nächsten Gedanken zu machen. Alles schön und gut, mag sein, aber die Frage war gar nicht mehr, ob ich die Geschichte noch aus der hohlen Hand schreiben konnte. Das hatte ich bereits getan. Die Frage war, was ich anfangen sollte, wenn mir die Tinte ausging.
    Die Klarinette war noch da, sie lag in ihrem Kasten neben meinem Bett. Ich schäme mich, das jetzt zuzugeben, aber fast wäre ich schwach geworden und hätte sie verkauft. Noch

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