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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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einen Job. Ich stehe morgens auf wie jeder andere, und dann versuche ich, den Tag zu überleben. Das ist Vollzeitarbeit. Keine Kaffeepausen, kein Wochenende, keine Zulagen, kein Urlaub. Ich beklage mich wohlgemerkt gar nicht, aber das Gehalt ist ganz schön niedrig.»
    «Ach was, Sie sind einfach ein Drückeberger. Ein oberschlauer Drückeberger, typisch Student.»
    «Sie sollten die Studenten nicht überschätzen. So toll sind sie nun auch wieder nicht.»
    «An Ihrer Stelle würde ich mal zum Arzt gehen», sagte Fernandez in einer plötzlichen Aufwallung von Mitgefühl. «Ich meine, sehen Sie sich doch bloß mal an. Ziemlich trauriges Bild, Mann. Kaum noch was von Ihnen übrig. Bloß ein Haufen Knochen.»
    «Habe eine Diät hinter mir. Mit zwei weichgekochten Eiern pro Tag kann man ja wohl kaum Staat machen.»
    «Also ich weiß nicht», sagte Fernandez und versank in seine eigenen Gedanken. «Manchmal sind sie alle wie verrückt. Wenn Sie mich fragen, das liegt an diesem Zeug, das die ins All schießen. Diese Satelliten und Raketen und der ganze blöde Scheiß. Wenn man Leute auf den Mond schickt, muß ja irgendwas ausrasten. Verstehen Sie? Manche drehen dann einfach durch. Man kann nicht am Himmel rumpfuschen und erwarten, daß nichts passiert.»
    Er entfaltete die Daily News, die er in der linken Hand gehalten hatte, und zeigte mir die Titelseite. Das war der Beweis, das endgültige Beweisstück. Zuerst konnte ich nichts erkennen, aber dann sah ich, daß es sich um die Luftaufnahme einer Menschenmenge handelte. Auf dem Bild waren Zehntausende von Leuten, eine gigantische Ansammlung von Körpern, mehr, als ich je zuvor an einem Ort gesehen hatte. Woodstock. Es hatte mit dem, was damals mit mir passierte, so wenig zu tun, daß mir nichts dazu einfiel. Diese Leute waren so alt wie ich, doch sosehr ich mich ihnen verbunden fühlte, sie hätten ebensogut auf einem anderen Planeten stehen können.
    Fernandez ging. Ich blieb noch einige Minuten liegen, stieg dann aus dem Bett und zog mich an. Ich brauchte nicht lange, um mich fertigzumachen. Ich packte ein paar Kleinigkeiten in einen Rucksack, klemmte den Klarinettenkasten unter den Arm und ging durch die Tür. Es war Ende August 1969. Ich erinnere mich an den strahlenden Sonnenschein an diesem Morgen und an die leichte Brise, die vom Fluß her wehte. Ich wandte mich nach Süden, hielt kurz inne und machte einen Schritt. Dann machte ich den nächsten Schritt, und so begann ich die Straße hinunterzugehen. Ich warf keinen Blick zurück.

 
ZWEITES KAPITEL
     
    Von diesem Punkt an wird die Geschichte komplizierter. Ich kann niederschreiben, was mit mir passiert ist, aber so genau und vollständig ich es auch tun mag, all das ergibt doch nur einen Teil der Geschichte, die ich eigentlich erzählen will. Es wurden andere Leute darin verwickelt, die am Ende mit dem, was mit mir passierte, genauso viel zu tun hatten wie ich selbst. Ich denke an Kitty Wu, an Zimmer, an Leute, die mir damals noch unbekannt waren. Erst viel später zum Beispiel erfuhr ich, daß Kitty es war, die damals an die Tür meiner Wohnung geklopft hatte. Meine Possen bei jenem sonntäglichen Frühstück hatten sie beunruhigt, und anstatt sich einfach weiter Sorgen um mich zu machen, hatte sie beschlossen, mal bei mir vorbeizugehen und nach dem Rechten zu sehen. Allerdings hatte sie Schwierigkeiten, meine Adresse herauszufinden. Am nächsten Tag sah sie im Telefonbuch nach, aber da ich kein Telefon hatte, stand ich auch nicht drin. Das steigerte ihre Besorgnis noch. Sie erinnerte sich, daß ich nach einem Mann namens Zimmer gefragt hatte, und begann jetzt selbst nach diesem Zimmer zu suchen - sie wußte, daß er vermutlich der einzige Mensch in New York war, der ihr sagen konnte, wo ich wohnte. Leider bezog Zimmer seine neue Wohnung erst in der zweiten Augusthälfte, also zehn bis zwölf Tage nach unserer Begegnung. Ungefähr in dem Augenblick, als es ihr gelang, seine Nummer bei der Information zu erfragen, ließ ich in meiner Wohnung die Eier auf den Boden fallen. (Wir ermittelten das fast auf die Minute genau, indem wir die chronologische Abfolge aufbereiteten, bis jedes Detail seinen Platz hatte.) Sie rief sofort bei Zimmer an, aber da war besetzt. Sie brauchte mehrere Minuten, bis sie durchkam, aber inzwischen saß ich bereits im Moon Palace und würgte an meinem Essen. Danach fuhr sie mit der U-Bahn zur Upper West Side. Die Fahrt zog sich jedoch über eine Stunde lang hin, und als sie endlich vor

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