Mond über Manhattan
bis der ganze Tisch leergeräumt war. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung. Fünfzehn oder zwanzig Minuten lang fraß ich mich voll, und als ich fertig war, war nur noch ein Haufen Weißfischgräten übrig. Sonst nichts. Ich suche in meinem Gedächtnis nach etwas anderem, kann aber nichts finden. Keinen Bissen. Nicht einmal eine Brotkruste.
Erst jetzt fiel mir auf, wie eindringlich die anderen mich anstarrten. War es denn so schlimm gewesen? fragte ich mich. Hatte ich gegeifert, mich unmöglich gemacht? Ich wandte mich zu Kitty und lächelte sie kläglich an. Sie wirkte eher verblüfft als angewidert. Das beruhigte mich ein wenig, doch wollte ich die anderen, sollte ich bei ihnen Anstoß erregt haben, unbedingt dafür entschädigen. Es war das mindeste, was ich tun konnte, dachte ich: für mein Fressen singen, sie vergessen machen, daß ich ihre Teller abgeleckt hatte. Während ich auf eine Gelegenheit wartete, mich ins Gespräch einzuschalten, wurde mir zunehmend bewußt, was für ein gutes Gefühl es war, neben meiner verloren geglaubten Zwillingsschwester zu sitzen. Ich schloß aus der Unterhaltung, daß sie Tänzerin war, und es war gar keine Frage, daß sie für ihr Mets-T-Shirt viel mehr tat als ich für meins. Es war schwer, sich nicht davon beeindrucken zu lassen, und während sie weiter mit den anderen plauderte und lachte, sah ich immer wieder verstohlen zu ihr hin. Sie trug weder Makeup noch BH, doch wurden alle ihre Bewegungen vom Klimpern ihrer Armbänder und Ohrringe begleitet. Ihre Brüste waren hübsch geformt, und sie zeigte sie mit bewundernswerter Nonchalance, also ohne sie zur Schau zu stellen oder so zu tun, als wären sie gar nicht da. Ich fand sie schön, aber noch mehr gefiel mir ihre Haltung, die Tatsache, daß ihre Schönheit sie nicht zu lahmen schien, wie es bei so vielen schönen Mädchen der Fall ist. Vielleicht war es die Freiheit ihrer Gesten, das Unverblümte und Nüchterne ihrer Redeweise. Das war kein verhätscheltes Spießermädchen wie die anderen, sondern eine, die wußte, wo es langging, die es geschafft hatte, aus eigenen Erfahrungen zu lernen. Daß ihr meine körperliche Nähe angenehm zu sein schien, daß sie von meiner Schulter, meinem Bein nicht abrückte und daß sie gar ihren bloßen Arm an meinem liegen ließ - all das veranlaßte mich schließlich dazu, mich zum Narren zu machen.
Wenig später erwischte ich eine Lücke in der Unterhaltung. Jemand begann von der Mondlandung zu sprechen, und ein anderer erklärte, sie habe in Wirklichkeit überhaupt nicht stattgefunden. Das Ganze sei ein Betrugsmanöver, sagte er, eine Fernsehposse, mit der die Regierung uns vom Krieg ablenken wolle. «Die Leute glauben alles, was man ihnen vorsetzt», fuhr derselbe fort, «selbst wenn der ganze Mist in einem Hollywoodstudio gefilmt wurde.» Mehr brauchte ich nicht für einen Einstieg. Um etwas möglichst Hanebüchenes zu sagen, erklärte ich in aller Ruhe, die Mondlandung im vorigen Monat sei nicht nur echt, sondern auch keineswegs die erste in der Geschichte gewesen. Der Mensch reise schon seit Jahrhunderten zum Mond, sagte ich, womöglich seit Jahrtausenden. Alles kicherte, als ich das sagte, aber dann legte ich erst richtig los und überschüttete sie in den nächsten zehn Minuten auf meine bewährte komischpedantische Art mit einem historischen Abriß der Mondkunde, wobei ich mich ausführlich auf Lukian, Godwin und andere bezog. Ich wollte sie mit meinem reichen Wissen beeindrucken, aber auch zum Lachen bringen. Berauscht von der Mahlzeit, die ich soeben beendet hatte, entschlossen, Kitty zu beweisen, daß sie jemanden wie mich noch nie kennengelernt habe, schwang ich mich zur Höchstform auf, und bald hatte ich sie alle mit meinem heftigen Wortschwall so weit gebracht, daß sie sich vor Lachen den Bauch hielten. Dann begann ich Cyranos Reise zum Mond zu beschreiben, wurde aber unterbrochen. Cyrano de Bergerac habe es gar nicht gegeben, sagte jemand; das sei eine Figur in einem Schauspiel, eine Phantasiegestalt. Diesen Irrtum konnte ich so nicht stehenlassen und schweifte daher ein wenig ab, um ihnen Cyranos Lebensgeschichte zu erzählen. Ich skizzierte seine Jugend als Soldat, erörterte seine Karriere als Philosoph und Dichter und erging mich dann ziemlich weitschweifig über die verschiedenen Kalamitäten, die ihm im Lauf der Jahre zustießen: finanzielle Schwierigkeiten, der qualvolle Verlauf seiner Syphilis, seine Streitigkeiten mit den Behörden wegen seiner radikalen
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