Mond über Manhattan
zu treffen. Richtung Norden wäre ich nach Morningside Heights gekommen, und dort wären die Straßen voller vertrauter Gesichter gewesen. Ich wäre zwar nicht auf Freunde, mit Sicherheit aber auf Leute gestoßen, die mich vom Sehen kannten: die alte Clique aus der West End Bar, Klassenkameraden, ehemalige Professoren. Ich hatte nicht den Mut, ihren Blicken standzuhalten, ihrem Starren, ihrer Verblüffung. Schlimmer noch, die Vorstellung, mit einem von ihnen reden zu müssen, versetzte mich in Panik.
Ich ging nach Süden, und für den Rest meiner Tage auf der Straße setzte ich keinen Fuß mehr auf den Upper Broadway. Ich hatte noch etwa sechzehn bis zwanzig Dollar in der Tasche, außerdem ein Messer und einen Kugelschreiber; mein Rucksack enthielt einen Pullover, eine Lederjacke, eine Zahnbürste, einen Rasierapparat mit drei ungebrauchten Klingen, ein zweites Paar Socken, Unterwäsche und ein kleines grünes Notizbuch mit einem Bleistift in der Spiralbindung. Unmittelbar nördlich des Columbus Circle, kaum eine Stunde nach Antritt meiner Pilgerfahrt, ereignete sich etwas ganz Unwahrscheinliches. Ich stand vor einer Uhrmacherwerkstatt und betrachtete den Mechanismus irgendeines antiken Chronometers im Schaufenster, als ich plötzlich vor mir auf dem Boden eine zehnDollar-Note liegen sah. Ich war so erschüttert, daß ich nicht wußte, wie ich reagieren sollte. Meine Gedanken waren schon in Aufruhr, und anstatt das einfach für einen Glückstreffer zu halten, redete ich mir ein, daß damit etwas äußerst Bedeutsames eingetreten sei: ein religiöses Ereignis, ein absolutes Wunder. Als ich das Geld aufhob und sah, daß es echt war, begann ich vor Freude zu zittern. Alles wird gut werden, sagte ich zu mir, am Ende wird alles gut ausgehen. Ohne weiter über die Sache nachzudenken, ging ich in einen griechischen Coffeeshop und spendierte mir ein Bauernfrühstück: Grapefruitsaft, Cornflakes, Schinken mit Ei, Kaffee und alles, was dazugehört. Nach dem Essen kaufte ich mir sogar eine Packung Zigaretten und trank an der Theke noch eine zweite Tasse Kaffee. Ein unwiderstehliches Gefühl von Glück und Wohlbehagen hatte mich ergriffen, ich konnte die Welt wieder lieben. Alles in dem Restaurant kam mir wunderbar vor: die dampfenden Kaffeemaschinen, die Drehstühle, die großen Toaster, die silbernen MilchshakeSpender, die in Glasgefäßen gestapelten frischen Muffins. Ich fühlte mich wie kurz vor der Wiedergeburt, wie jemand, der im Begriff ist, einen neuen Kontinent zu entdecken. Während ich noch eine Camel rauchte, beobachtete ich den Mann hinter der Theke bei der Arbeit, dann die schlampige Kellnerin mit den falschen roten Haaren. Beide hatten etwas unaussprechlich Wehmütiges an sich. Ich wollte ihnen sagen, wieviel sie mir in diesem Augenblick bedeuteten, aber ich brachte die Worte nicht heraus. Einige Minuten lang blieb ich so in meinem Hochgefühl sitzen und lauschte nur meinen Gedanken. Sie waren ein einziges Durcheinander, chaotisch und ekstatisch. Dann war meine Zigarette heruntergebrannt, und ich nahm meine Kräfte zusammen und zog weiter.
Am Nachmittag war es drückend heiß geworden. Da ich sonst nichts mit mir anzufangen wußte, ging ich in eins dieser Kinos an der 42nd Street nahe beim Times Square, in denen das Hauptprogramm aus drei Spielfilmen besteht. Mich lockte die Aussicht auf klimatisierte Luft, und ich ging blindlings hinein, ohne auch nur am Aushang nachzusehen, was überhaupt lief.
Für neunundneunzig Cent war ich bereit, alles auszuhalten. Ich setzte mich oben in die Raucher-Abteilung, und während der ersten beiden Filme, deren Titel ich vergessen habe, verqualmte ich weitere zehn oder zwölf Camels. Das Kino war einer dieser in der Depressionszeit erbauten knalligen Traumpaläste: Kronleuchter im Vorraum, Marmortreppen, Rokokoschnörkel an den Wänden. Es war eher ein Heiligtum als ein Kino, ein Tempel zur Verherrlichung der Illusion. Bei der draußen herrschenden Hitze schienen sich fast sämtliche New Yorker Obdachlosen hierhin geflüchtet zu haben. Säufer und Süchtige, Männer mit Krätze im Gesicht, Männer, die vor sich hinmurmelten oder mit den Schauspielern auf der Leinwand sprachen, Männer, die schnarchten und furzten, Männer, die sich in die Hosen pißten. Platzanweiser patrouillierten mit Taschenlampen durch die Gänge und sahen nach, ob irgend jemand eingeschlafen war. Lärm wurde geduldet, doch verstieß es offenbar gegen das Gesetz, in diesem Kino das Bewußtsein zu
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