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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ich denn hin? Die Vorstellung, die Nacht in einer billigen Absteige zu verbringen, stieß mich ab. Undenkbar, mit hundert Pennern in einem Raum zu liegen, ihre Gerüche einzuatmen und das Grunzen alter Männer anhören zu müssen, die es miteinander trieben. Ein solcher Ort war nichts für mich, nicht einmal, wenn ich umsonst hineinkäme. Dann gab es natürlich die U-Bahnen, aber ich wußte im voraus, daß ich da unten kein Auge zumachen könnte - bei all dem Geschlinger, Lärm und Neonlicht, bei der Vorstellung, daß jederzeit irgendein Bahnbulle vorbeikommen und mir mit seinem Schlagstock auf die Fußsohlen hauen könnte. So irrte ich ängstlich einige Stunden umher und versuchte einen Entschluß zu fassen. Wenn ich mich am Ende für den Central Park entschied, dann nur deshalb, weil ich zu erschöpft war, als daß mir noch etwas Besseres hätte einfallen können. Gegen elf Uhr fand ich mich auf der Fifth Avenue, und ich ließ meine Hand geistesabwesend über die Mauer streifen, die den Park von der Straße trennt. Ich blickte über die Mauer, sah den riesigen entvölkerten Park und stellte fest, daß sich mir um diese Zeit wohl kaum etwas Besseres bieten würde. Schlimm genug, aber immerhin wäre der Boden weich, und mir gefiel der Gedanke, mich dort ins Gras zu legen, mein Bett an einem Ort aufzuschlagen, wo niemand mich sehen konnte. Nahe beim Metropolitan Museum betrat ich den Park, schleppte mich ein paar Minuten hinein und kroch dann unter einen Busch. Ich hatte keine Lust mehr, mich sonderlich sorgfältig umzusehen. Die Horrorgeschichten über den Central Park waren mir hinlänglich bekannt, aber in diesem Augenblick war meine Erschöpfung größer als meine Angst. Sollte der Busch mir doch keine Deckung bieten, dachte ich, hatte ich immer noch mein Messer, um mich zu verteidigen. Ich rollte meine Lederjacke zu einem Kopfkissen zusammen und wälzte mich dann eine Weile hin und her, um es mir bequem zu machen. Sobald ich aufhörte, mich zu bewegen, hörte ich irgendwo im Gebüsch neben mir eine Grille zirpen. Gleich darauf ließ eine leichte Brise die Zweige und dünnen Äste um meinen Kopf rascheln. Zu denken hatte ich nichts mehr. Der Mond stand in dieser Nacht nicht am Himmel, auch kein einziger Stern. Bevor mir einfiel, das Messer aus der Tasche zu holen, war ich fest eingeschlafen.
    Beim Aufwachen fühlte ich mich, als hätte ich in einem Güterwagen geschlafen. Es dämmerte bereits, und mein ganzer Körper schmerzte, meine Muskeln waren völlig verspannt. Ich befreite mich vorsichtig aus dem Busch, fluchte und stöhnte bei jeder Bewegung, um mir dann erst einmal ein Bild von meiner Umgebung zu machen. Ich hatte die Nacht am Rand eines
    Softball-Feldes verbracht, im Gesträuch hinter dem Schlagmal. Das Feld lag in einer flachen Bodensenke, und zu dieser frühen Stunde hing ein dünner grauer Nebel über dem Gras. Kein Mensch war in Sicht. Ein paar Spatzen sausten zwitschernd in der Nähe des zweiten Mals herum, in den Bäumen über mir krächzte ein Blauhäher. Ich war in New York, aber es hatte nichts mit dem New York zu tun, das ich gekannt hatte. Dieser Ort weckte keine Assoziationen, er hätte überall sein können. Während ich darüber nachdachte, wurde mir plötzlich klar, daß ich die erste Nacht überstanden hatte. Ich behaupte nicht, daß ich diese Leistung bejubelt hätte - dafür schmerzte mein Körper zu sehr -, aber ich wußte nun, daß ich ein wichtiges Stück Arbeit hinter mich gebracht hatte. Ich hatte die erste Nacht überstanden, und wenn ich es einmal geschafft hatte, würde es mir auch noch öfter gelingen.
    Danach schlief ich jede Nacht im Park. Er wurde mein Asyl, eine vertraute Zuflucht vor den zermürbenden Anforderungen der Straße. Über drei Quadratkilometer, in denen ich umherstreifen konnte, und im Gegensatz zu dem massiven Geflecht von Häusern und Wolkenkratzern, das außerhalb der Parkgrenze lauerte, bot mir der Park die Möglichkeit, allein zu sein, mich vom Rest der Welt fernzuhalten. Die Straßen sind voller Leute und Lärm, und ob es einem paßt oder nicht, man muß sich, will man dort leben, einem strengen Verhaltenskodex unterwerfen. Wer in der Menge geht, darf nicht schneller gehen als die anderen, darf nicht hinter seinen Nächsten zurückbleiben, darf überhaupt nichts tun, was den menschlichen Verkehrsfluß stören könnte. Wer sich an diese Spielregeln hält, wird von den Leuten kaum wahrgenommen. Wenn die New Yorker durch die Straßen gehen, legt sich ein

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