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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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verlieren. Immer wenn ein Platzanweiser einen Schlafenden entdeckte, leuchtete er ihm mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht und sagte ihm, er solle die Augen aufmachen. Wenn der Mann nicht reagierte, zwängte sich der Platzanweiser zu ihm durch und schüttelte ihn, bis er aufwachte. Die Aufsässigen wurden, oft unter lautem und grimmigem Protest, hinausgeworfen. Das geschah an diesem Nachmittag ein halbes dutzendmal. Erst viel später kam mir der Gedanke, daß die Platzanweiser wahrscheinlich nach Leichen suchten.
    Ich ließ mich nicht davon stören. Ich war gelassen, ich war ruhig, ich war zufrieden. Angesichts der Ungewißheit, die mich draußen erwartete, hatte ich die Dinge bemerkenswert fest im Griff. Dann begann der dritte Film, und mit einem mal war ich hellwach. Gezeigt wurde In achtzig Tagen um die Welt, derselbe Film, den ich vor elf Jahren in Chicago mit Onkel Victor gesehen hatte. Ich glaubte, es würde mir Freude machen, ihn noch einmal zu sehen, und eine Weile hielt ich mich für einen Glückspilz, weil ich genau an dem Tag in dieses Kino geraten war, an dem dieser Film gezeigt wurde - ausgerechnet dieser Film. Es kam mir vor, als ob das Schicksal über mich wachte, als ob mein Leben unter dem Schutz wohlwollender Geister stünde. Wenig später jedoch bemerkte ich, daß mir seltsame und unerklärliche Tränen in die Augen traten. Und als dann Phileas Fogg und Passepartout in den Heißluftballon kletterten (irgendwann in der ersten halben Stunde des Films), flossen die Tränenkanäle schließlich über, und eine heiße, salzige Flut brannte mir auf den Wangen. Tausend Kindheitsnöte stürmten auf mich ein, und ich hatte nicht die Kraft, sie abzuwehren. Wenn Onkel Victor mich jetzt sehen könnte, dachte ich, wäre er bedrückt, wäre er sehr bekümmert. Ich war zu einem Nichts geworden, zu einem Toten, der kopfüber in die Hölle stürzte. David Niven und Cantinflas blickten aus dem Korb ihres Ballons, schwebten über die üppige französische Landschaft hin, und ich saß unten im Dunkeln mit einem Haufen Säufer und schluchzte mir die Seele aus dem Leib, bis ich keine Luft mehr bekam. Ich stand auf und schlich mich nach unten zum Ausgang. Draußen überfiel mich das Licht des frühen Abends, jähe Wärme hüllte mich ein. Geschieht dir recht, sagte ich mir. Ich habe mein Nichts selbst geschaffen, und jetzt muß ich damit leben.
    Die nächsten paar Tage ging es so weiter. Meine Stimmungen schwankten gefährlich von einem Extrem ins andere, stießen mich so oft zwischen Freude und Verzweiflung hin und her, daß ich am Ende ganz kopflos wurde. Nahezu alles konnte den Umschwung auslösen: eine plötzliche Konfrontation mit der Vergangenheit, das zufällige Lächeln eines Fremden, das Licht auf dem Bürgersteig zu irgendeiner Stunde. Ich mühte mich, Gleichgewicht zu schaffen, jedoch vergebens: Ich bestand nur noch aus Wankelmut, Unruhe und entsetzlichen Launen. Wenn ich mich, äußerst zuversichtlich, in die Reihen der Illuminaten zu treten, einmal mit einer philosophischen Frage beschäftigte, konnte ich gleich darauf in Tränen ausbrechen, wenn die Last meiner Qualen über mich hereinbrach. Ich war so tief in mich versunken, daß ich die Dinge nicht mehr richtig wahrnehmen konnte: Gegenstände wurden Gedanken, und jeder Gedanke war ein Teil des Dramas, das sich in mir abspielte.
    In meinem Zimmer zu sitzen und darauf zu warten, daß der Himmel über mir einstürzen würde, war eine Sache gewesen; eine ganz andere aber war es, ins Freie gestoßen zu sein. Zehn Minuten nach Verlassen des Kinos begriff ich endlich, was mir bevorstand. Die Nacht kam immer näher, und ich würde binnen weniger Stunden einen Platz zum Schlafen finden müssen. Heute kommt mir das bemerkenswert vor, aber damals hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen ernstlichen Gedanken an dieses Problem verschwendet. Ich hatte angenommen, daß sich das irgendwie von selbst regeln würde, daß es reichte, sich auf das blinde, dumme Glück zu verlassen. Als ich dann jedoch meine Aussichten genauer betrachtete, merkte ich, wie düster sie in Wirklichkeit waren. Ich würde mich nicht wie ein Penner auf den Bürgersteig legen, sagte ich mir, und dort die ganze Nacht in Zeitungen gehüllt verbringen. Da wäre ich ja jedem Irren in der Stadt ausgeliefert; eine Einladung an irgendwen, mir die Kehle aufzuschlitzen. Und selbst wenn mir ein Überfall erspart bliebe, würde ich bestimmt wegen Stadtstreicherei festgenommen. Andererseits - wo sollte

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