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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ich sie das nächste Mal aufschlug, rüttelte mich ein Offizier am Arm und sagte, ich solle aufwachen. Sie können jetzt nach Hause gehen, sagte er, es ist alles vorbei.
    In der Spätnachmittagssonne überquerte ich die Straße. Wie er versprochen hatte, saß Zimmer in dem Restaurant und wartete auf mich.
    Danach nahm ich rasch zu. Ich glaube, in den nächsten zehn Tagen achtzehn bis zwanzig Pfund, und Ende des Monats begann ich allmählich wieder so auszusehen wie früher. Zimmer sorgte gewissenhaft für meine Ernährung, lud den Kühlschrank mit allen möglichen Lebensmitteln voll, und als ich stabil genug schien, mich wieder aus der Wohnung zu wagen, fing er an, mich allabendlich in eine Bar auszuführen, ein dunkles und ruhiges Lokal ohne viel Publikumsverkehr, wo wir Bier tranken und am Fernseher die Baseballspiele verfolgten. Das Gras war in diesem Fernseher immer blau, die Schlaghölzer verschwommen orange, und die Spieler sahen aus wie Clowns, aber es war angenehm, so in unserer kleinen Nische zu hocken und stundenlang über die vor uns liegenden Dinge zu reden. Es war für uns beide eine äußerst friedliche Zeit: ein kurzer Augenblick des Innehaltens, bevor wir weitermachten.
    Aus diesen Gesprächen erfuhr ich nach und nach etwas mehr über Kitty Wu. Zimmer fand sie bemerkenswert, und wenn er von ihr sprach, war die Bewunderung in seiner Stimme kaum zu überhören. Einmal verstieg er sich sogar zu der Bemerkung, wenn er nicht schon in eine andere verliebt wäre, würde er sich über beide Ohren in sie verliebt haben. Sie sei das vollkommenste Mädchen, das er je kennengelernt habe, sagte er, und letzten Endes irritiere ihn an ihr nur, daß sie sich von einer so langweiligen Type wie mir angezogen fühle.
    «Ich glaube nicht, daß sie sich von mir angezogen fühlt», sagte ich. «Sie hat einfach ein gutes Herz, das ist alles. Sie hatte Mitleid mit mir und hat etwas unternommen - genau wie andere Leute mit verletzten Hunden Mitleid empfinden.»
    «Ich habe sie jeden Tag gesehen, M. S. Fast drei Wochen lang jeden Tag. Sie konnte gar nicht aufhören, von dir zu reden.»
    «Das ist doch absurd.»
    «Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Das Mädchen ist wahnsinnig verliebt in dich.»
    «Warum kommt sie mich dann nicht besuchen?»
    «Sie hat viel zu tun. Ihre Vorlesungen an der Juilliard haben angefangen, und außerdem hat sie einen Teilzeitjob.»
    «Das wußte ich nicht.»
    «Natürlich nicht. Weil du ja überhaupt nichts weißt. Du liegst den ganzen Tag im Bett, plünderst den Kühlschrank, liest meine Bücher. Ab und zu versuchst du dich mal am Abwasch. Wie sollst du da irgendwas wissen?»
    «Meine Kräfte nehmen zu. Noch ein paar Tage, und ich bin wieder der alte.»
    «Körperlich. Aber dein Kopf hat noch einen weiten Weg vor sich.»
    «Was soll das heißen?»
    «Daß du auch unter die Oberfläche sehen mußt, M. S. Daß du deine Phantasie gebrauchen mußt.»
    «Ich habe immer gedacht, gerade das sei mein Fehler. Ich versuche jetzt, realistischer zu sein, nüchterner.»
    «Ja, wenn es um dich geht, aber mit anderen Leuten kannst du das nicht machen. Was glaubst du, warum hat Kitty sich zurückgezogen? Was glaubst du, warum sie dich nicht mehr besuchen kommt?»
    «Weil sie viel zu tun hat. Das hast du mir doch eben gesagt.»
    «Das ist nur die eine Hälfte.»
    «Du drehst dich im Kreis, David.»
    «Ich versuche dir bloß klarzumachen, daß da noch mehr dahintersteckt, als du denkst.»
    «Na schön, was ist die andere Hälfte?»
    «Besonnenheit.»
    «Das ist das letzte, was mir zu Kitty einfallen würde. Sie ist wahrscheinlich der offenste und spontanste Mensch, den ich je
    kennengelernt habe.»
    «Wohl wahr. Aber hinter alldem steckt eine ungeheure Zurückhaltung, echtes Feingefühl.»
    «Als ich sie zum erstenmal sah, hat sie mich geküßt, wußtest du das? Ich wollte gerade gehen, da fing sie mich an der Tür ab, schlang mir die Arme um den Hals und drückte mir einen dicken Kuß auf die Lippen. Das würde ich nicht gerade als feinfühlig oder zurückhaltend bezeichnen.»
    «War es ein guter Kuß?»
    «Um ehrlich zu sein, es war ein erstaunlicher Kuß. Einer der besten Küsse, die mir jemals zuteil geworden sind.»
    «Siehst du? Das beweist doch haarscharf meine These.»
    «Das beweist gar nichts. Es war einfach eine ganz spontane Sache.»
    «Nein, Kitty wußte, was sie tat. Sie folgt zwar ihren Eingebungen, aber diese Eingebungen sind auch eine Form von Wissen.»
    «Du scheinst dir verdammt sicher zu

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