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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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und führte mich die Treppe hinunter, und als wir dann zur U-Bahn schwankten, durfte ich mich an ihn lehnen. Ich fürchte, es war ein jämmerliches, ein schauriges Spektakel. Zimmer brachte mich zum Eingang des Gebäudes in der Whitehall Street und wies dann auf ein Restaurant genau gegenüber, wo ich ihn finden würde, wenn ich es hinter mir hätte. Er drückte mir ermutigend den Arm. «Keine Bange», sagte er. «Du wirst einen tollen Soldaten abgeben, Fogg. Das sieht man dir schon von weitem an.» - «Da hast du verdammt recht», antwortete ich. «Der beste Scheißsoldat in der ganzen gottverfluchten Army. Das sieht doch jeder Idiot.» Ich salutierte spöttisch und taumelte in das Gebäude, wobei ich mich an den Wänden abstützte.
    Von dem, was jetzt kam, weiß ich nur noch wenig. Einzelne Bruchstücke sind noch da, aber die ergeben kein richtiges Gesamtbild, nichts, was ich mit Überzeugung vertreten könnte. Diese Erinnerungslücken beweisen, wie erbärmlich geschwächt ich damals gewesen sein muß. Es erforderte meine ganze Kraft, einfach dazustehen und nicht umzufallen, daher achtete ich nicht auf das, was mit mir geschah. Ich nehme sogar an, daß meine Augen in diesen Stunden meistenteils geschlossen waren, und wenn es mir gelang, sie einmal aufzuschlagen, dann selten lange genug, um meine Umgebung richtig wahrzunehmen. Wir waren etwa fünfzig bis hundert Leute, die die Prozedur gemeinsam durchliefen. Ich erinnere mich, wie ich in einem dunklen Raum an einem Pult sitze und einem Sergeant zuhöre, aber ich weiß nicht mehr, was er zu uns gesagt hat, bin nicht imstande, mir ein einziges Wort davon ins Gedächtnis zurückzurufen. Wir mußten Formulare ausfüllen, und dann gab es irgendeinen schriftlichen Test, aber es kann auch sein, daß zuerst der Test und dann die Formulare kamen. Ich erinnere mich, daß ich die Organisationen ankreuzte, denen ich angehört hatte, und daß ich mir viel Zeit damit ließ: am College der SDS, an der High School SANE und SNCC; und dann mußte ich die Umstände meiner Verhaftung im Jahr zuvor erläutern. Ich wurde als letzter fertig, und am Ende sah mir der Sergeant dabei über die Schulter und murmelte irgendwas von Uncle Ho und der amerikanischen Flagge.
    Danach gibt es eine Lücke von mehreren Minuten, es könnte auch eine halbe Stunde sein. Ich sehe Korridore, Neonlampen, Gruppen junger Männer, die in Unterhosen herumstehen. Ich kann mich erinnern, wie schrecklich wehrlos ich mir da vorkam, aber diverse andere Einzelheiten sind mir entfallen. Zum Beispiel, wo wir uns ausgezogen haben und was wir miteinander sprachen, als wir in der Schlange standen. Speziell ist es mir unmöglich, mich darauf zu besinnen, was mit unseren Füßen war. Über den Knien trugen wir nur noch unsere Unterhosen, aber alles unterhalb davon bleibt mir ein Rätsel. Durften wir unsere Schuhe und/oder unsere Socken tragen, oder ließ man uns barfuß durch diese Gänge gehen? Ich komme einfach nicht dahinter, habe nicht den leisesten Schimmer.
    Schließlich wurde ich in ein Zimmer gerufen. Ein Arzt klopfte mir Brust und Rücken ab, sah mir in die Ohren, packte meine Eier und ließ mich husten. All das erforderte wenig Anstrengung, aber als er mir dann eine Blutprobe entnehmen mußte, wurde die Untersuchung plötzlich recht aufregend. Ich war so blutarm und ausgezehrt, daß der Arzt keine Vene in meinem Arm finden konnte. Zwei- oder dreimal stach er eine Nadel hinein, durchlöcherte mir die Haut, doch Blut floß keines in das Röhrchen.
    Ich muß inzwischen schrecklich ausgesehen haben - ganz blaß und elend, wie jemand, der gleich in Ohnmacht fällt -, und nach einer Weile gab er es auf und sagte mir, ich solle mich auf eine Bank setzen. Ich glaube, er war ziemlich freundlich oder zumindest gleichgültig. «Wenn Ihnen wieder schwindlig wird», sagte er, «setzen Sie sich einfach auf den Boden und warten, bis es vorbei ist. Wir wollen doch nicht, daß Sie umfallen und sich den Kopf anschlagen, oder?»
    Ich erinnere mich deutlich, wie ich auf dieser Bank saß, aber als nächstes sehe ich mich schon in einem anderen Raum auf einem Tisch liegen. Wieviel Zeit dazwischen lag, ist unmöglich zu ermitteln. Ich glaube nicht, daß ich ohnmächtig geworden bin, aber als man noch einmal versuchte, mir Blut abzunehmen, wollte man wohl kein Risiko eingehen. Um meinen Bizeps war ein Gummiband gespannt, damit die Vene besser herauskam, und als der Arzt die Nadel endlich drin hatte - ob es derselbe
    Arzt war oder ein

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