Mond über Manhattan
anderer, weiß ich nicht mehr -, machte er irgendeine Bemerkung über meine Magerkeit und fragte mich, ob ich an diesem Morgen gefrühstückt hätte. Es war sicher mein lichtester Augenblick an diesem Tag, als ich mich zu ihm umdrehte und ihm die einfachste und aus tiefstem Herzen kommende Antwort gab, die ich mir nur denken konnte. «Doktor», sagte ich, «sehe ich wie jemand aus, der auf sein Frühstück verzichten kann?»
Da war noch mehr, da muß noch sehr viel mehr gewesen sein, aber ich kann nur wenig davon einordnen. Irgendwo bekamen wir ein Mittagessen (im Gebäude?, in einem Restaurant außerhalb?), aber das einzige, was ich von der Mahlzeit noch weiß, ist, daß niemand neben mir sitzen wollte. Am Nachmittag, wieder oben in den Korridoren, wurden wir dann endlich vermessen und gewogen. Ich brachte lächerlich wenig auf die Waage - 112 Pfund, glaube ich, vielleicht 115. Von da an wurde ich vom Rest der Gruppe abgesondert. Man schickte mich zu einem Psychiater, einem rundlichen Mann mit dicken Stummelfingern, und ich weiß noch, daß ich dachte, er sehe eher wie ein Ringer als wie ein Arzt aus. Ihm etwas vorzulügen kam gar nicht in Frage. Ich befand mich bereits in meiner neuen Phase potentieller Heiligkeit, und ich wollte auf keinen Fall irgend etwas tun, das ich später bereuen würde. Der Psychiater seufzte während unseres Gesprächs ein paarmal, schien aber ansonsten von meinen Bemerkungen und meinem Aussehen nicht beunruhigt. Ich nahm an, er sei inzwischen ein alter Hase, was solche Gespräche angehe, und dürfte sich nicht so leicht aus der Fassung bringen lassen. Ich selbst war von der Oberflächlichkeit seiner Fragen ziemlich überrascht. Er fragte mich, ob ich Drogen nähme, und als ich verneinte, zog er die Augenbrauen hoch und fragte mich noch einmal, aber ich gab ihm zum zweitenmal dieselbe Antwort, womit er es dann bewenden ließ. Danach kamen Standardfragen: nach der Beschaffenheit meines Stuhlgangs; ob ich nächtliche
Samenergüsse hätte; wie oft ich an Selbstmord dächte. Ich antwortete so schlicht wie möglich, ohne Beschönigung oder Kommentar. Während ich sprach, hakte er, ohne mich anzusehen, auf einem Blatt Papier kleine Kästchen ab. Es hatte für mich etwas Tröstliches, auf diese Weise über so intime Dinge zu reden - als spräche ich mit einem Steuerberater oder einem Automechaniker. Als der Arzt dann aber am Ende der Seite angekommen war, sah er wieder auf und fixierte mich gut vier oder fünf Sekunden lang.
«Sie sind in einer ziemlich traurigen Verfassung, mein Junge», sagte er schließlich.
«Ich weiß», sagte ich. «Es ist mir in letzter Zeit nicht sonderlich gut gegangen. Aber ich denke, ich bin auf dem Weg der Besserung.»
«Möchten Sie darüber reden?»
«Wenn Sie wollen.»
«Erzählen Sie mir zunächst von Ihrem Gewicht.»
«Ich hatte Grippe. Vor ein paar Wochen habe ich mir so eine Magengeschichte zugezogen und nichts essen können.»
«Wieviel Gewicht haben Sie verloren?»
«Keine Ahnung. Vierzig oder fünfzig Pfund, glaube ich.»
«In zwei Wochen?»
«Nein, in insgesamt etwa zwei Jahren. Aber das meiste ging diesen Sommer weg.»
«Wieso?»
«Kein Geld zum einen. Ich hatte nicht genug Geld, um mir etwas zu essen zu kaufen.»
«Haben Sie keine Arbeit?»
«Nein.»
«Haben Sie nicht nach einer gesucht?»
«Nein.»
«Das werden Sie mir erklären müssen, mein Junge.»
«Es ist eine ziemlich komplizierte Geschichte. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können.»
«Lassen Sie das mal meine Sorge sein. Erzählen Sie mir einfach, was passiert ist, und kümmern Sie sich nicht darum, wie es sich anhört. Wir haben es nicht eilig.»
Aus irgendeinem Grund empfand ich das überwältigende Bedürfnis, diesem Fremden meine Geschichte anzuvertrauen. Nichts hätte unangemessener sein können, aber ehe ich mich noch zügeln konnte, begannen aus meinem Mund Worte zu kommen. Ich spürte, wie meine Lippen sich bewegten, gleichzeitig aber kam es mir vor, als hörte ich jemand anderen reden. Ich hörte meine Stimme über meine Mutter quasseln, über Onkel Victor, über den Central Park und Kitty Wu. Der Arzt nickte höflich, doch konnte er mir ganz offensichtlich nicht folgen. Während ich redete und ihm mein Leben in den vergangenen zwei Jahren erklärte, bemerkte ich, daß ihm immer unbehaglicher zumute wurde. Das frustrierte mich, und je deutlicher sich seine Verständnislosigkeit abzeichnete, desto verzweifelter versuchte ich, ihm die Sache klarzumachen. Ich
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