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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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hatte das Gefühl, meine Würde als Mensch stünde auf dem Spiel. Daß er ein Army-Arzt war, spielte keine Rolle, er war auch ein Mensch, und es war mir unendlich wichtig, mich ihm verständlich zu machen. «Unser Leben wird von vielfältigen Unwägbarkeiten bestimmt», versuchte ich mich so kurz wie möglich zu fassen, «und Tag für Tag kämpfen wir gegen diese Schläge und Widrigkeiten an, um uns im Gleichgewicht zu halten. Vor zwei Jahren entschloß ich mich aus Gründen privater und philosophischer Natur, diesen Kampf aufzugeben. Nicht, weil ich mich umbringen wollte - das dürfen Sie nicht denken -, sondern weil ich dachte, wenn ich mich dem Chaos der Welt preisgäbe, könnte die Welt mir vielleicht am Ende irgendeine verborgene Harmonie offenbaren, irgendeine Struktur oder Regelmäßigkeit, mit deren Hilfe es mir gelänge, mein Ich zu ergründen. Es ging mir darum, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie waren, mich im Fluß des Universums treiben zu lassen. Ich behaupte nicht, daß mir das sonderlich gut gelungen ist. Im Gegenteil, ich habe erbärmlich versagt. Doch das ändert nichts an der Aufrichtigkeit des Versuchs. Auch wenn ich nahe daran war zu sterben, ich glaube doch, daß es mich zu einem besseren Menschen gemacht hat.»
    Ein schreckliches Gefasel. Meine Ausdrucksweise wurde immer unbeholfener und abstrakter, und schließlich bemerkte ich, daß der Arzt es aufgegeben hatte, mir zuzuhören. Er starrte irgendeinen unsichtbaren Punkt über meinem Kopf an, eine Mischung aus Verwirrung und Mitleid umwölkte seinen Blick. Ich weiß nicht, wie lange ich so vor mich hin monologisierte, aber jedenfalls lange genug, um ihm klarzumachen, daß ich ein hoffnungsloser Fall war - ein wirklich hoffnungsloser Fall, und nicht einer von den unechten Irren, für deren Entlarvung er ausgebildet war. «Das reicht, mein Junge», unterbrach er mich schließlich mitten im Satz. «Ich denke, ich weiß jetzt ungefähr Bescheid.» In den nächsten Minuten saß ich schweigend auf meinem Stuhl; ich zitterte und schwitzte, während er etwas auf einen amtlichen Briefbogen kritzelte. Er faltete ihn einmal und reichte ihn mir dann über den Tisch. «Bringen Sie das dem befehlshabenden Offizier am Ende des Korridors», sagte er, «und bitten Sie beim Rausgehen den nächsten hinein.»
    Ich erinnere mich, wie ich mit dem Attest in der Hand den Flur entlangging und gegen die Versuchung ankämpfte, es mir anzusehen. Ich konnte mich nicht des Gefühls erwehren, beobachtet zu werden, des Gefühls, daß es Leute in diesem Hause gab, die meine Gedanken lesen konnten. Der befehlshabende Offizier, ein großer Mann in voller Uniform, trug ein Puzzle von Orden und Auszeichnungen auf der Brust. Er sah von einem Stapel Papiere auf seinem Schreibtisch auf und winkte mich lässig heran. Ich reichte ihm das Attest des Psychiaters. Kaum hatte er einen Blick darauf geworfen, zeigte er mir grinsend die Zähne. «Na Gott sei Dank», sagte er. «Sie haben mir ein paar Tage Arbeit erspart.» Ohne weitere Erklärung zerriß er die Papiere auf seinem Schreibtisch und warf sie in den Papierkorb. Er schien überaus zufrieden. «Freut mich, daß Sie durchgefallen sind, Fogg», sagte er. «Wir hätten umfassende Nachforschungen über Sie anstellen müssen, aber jetzt, wo Sie untauglich sind, brauchen wir uns nicht mehr darum zu kümmern.»
    «Nachforschungen?» fragte ich.
    «Diese ganzen Organisationen, denen Sie angehört haben», sagte er geradezu fröhlich. «Was sollen wir in der Army mit rot angehauchten Umstürzlern und Agitatoren? Das schadet der Moral.»
    An die genaue Reihenfolge der nun folgenden Ereignisse kann ich mich nicht erinnern, aber wenig später saß ich in einem Raum zusammen mit den anderen Außenseitern und Ausgestoßenen. Wir waren etwa ein Dutzend, und ich habe wohl noch nie einen erbärmlicheren Haufen von Leuten auf einem Fleck beisammen gesehen. Ein Junge, dessen Gesicht und Rücken grauenhaft voller Pickel waren, saß zitternd in einer Ecke und sprach mit sich selbst. Ein anderer hatte einen verkümmerten Arm. Wieder ein anderer wog mindestens dreihundert Pfund, er lehnte an einer Wand, machte mit den Lippen Furzgeräusche und lachte nach jeder Salve wie ein aufdringlicher Siebenjähriger. Das waren die Einfältigen, die Grotesken, die jungen Männer, die nirgendwo hingehörten. Ich war inzwischen fast besinnungslos vor Erschöpfung und sprach mit keinem von ihnen. Ich setzte mich auf einen Stuhl an der Tür und schloß die Augen. Als

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