Mond über Manhattan
sein.»
«Versetz dich mal in ihre Lage. Sie verliebt sich in dich, sie küßt dich auf die Lippen, sie läßt alles stehen und liegen, um loszuziehen und dich zu suchen. Aber was hast du für sie getan? Kein bißchen. Nicht das geringste. Was Kitty von anderen Leuten unterscheidet, ist, daß sie bereit ist, das zu akzeptieren. Stell dir das nur mal vor, Fogg. Sie rettet dir das Leben, und doch schuldest du ihr nichts. Sie erwartet keine Dankbarkeit von dir. Sie erwartet nicht einmal Freundschaft. Kann sein, daß sie sich das wünscht, aber bitten wird sie nie darum. Sie hat zuviel Respekt vor anderen Leuten, als daß sie jemanden gegen seinen Willen zu irgend etwas zwingen würde. Sie ist offen und spontan, aber gleichzeitig würde sie lieber sterben als dir das Gefühl vermitteln, sie würfe sich dir an den Hals. Das verstehe ich unter Besonnenheit. Sie ist schon weit genug gegangen, und jetzt kann sie nur noch stillhalten und warten.»
«Was willst du damit sagen?»
«Daß es auf dich ankommt, Fogg. Der nächste Schritt ist jetzt deine Sache.»
Nach dem, was Kitty Zimmer erzählt hatte, war ihr Vater im vorrevolutionären China Kuomintang-General gewesen. In den dreißiger Jahren dann Bürgermeister oder Militärgouverneur von Peking. Obwohl er zum engeren Kreis um Tschiang Kaischek gehörte, rettete er einmal Tschu Enlai das Leben, indem er ihm freies Geleit aus der Stadt anbot, nachdem ihn Tschiang, unter dem Vorwand, ein Treffen zwischen der Kuomintang und den Kommunisten aushandeln zu wollen, dorthin gelockt hatte. Trotzdem blieb der General der Sache der Nationalisten treu und ging nach der Revolution zusammen mit dem Rest von Tschiangs Gefolgsleuten nach Taiwan. Wu hatte eine riesige Familie: eine offizielle Ehefrau, zwei Konkubinen, fünf oder sechs Kinder, dazu einen ganzen Stab von Dienstboten. Im Februar 1950 brachte die zweite Konkubine Kitty zur Welt, und als General Wu sechzehn Monate später zum Botschafter in Japan ernannt wurde, zog die Familie nach Tokio. Damit hatte Tschiang zweifellos einen klugen Zug getan: den aufsässigen, freimütigen General mit einem so wichtigen Posten zu beehren und ihn gleichzeitig aus dem Zentrum der Macht in Taipeh zu entfernen. General Wu war inzwischen Ende Sechzig, und seine Tage als Mann von Einfluß waren offensichtlich gezählt.
Kitty verbrachte ihre Kindheit in Tokio, wurde auf amerikanische Schulen geschickt, was ihr makelloses Englisch erklärt, und genoß alle Vorteile, die ihr privilegiertes Leben ihr zu bieten hatte: Ballettunterricht, Weihnachten in Amerika, Wagen mit Chauffeur. Trotz alledem war ihre Kindheit einsam. Sie war zehn Jahre jünger als ihre nächste Halbschwester, und einer ihrer Brüder, ein Bankier mit Wohnsitz in der Schweiz, war ganze dreißig Jahre älter als sie. Erschwerend kam hinzu, daß die Stellung ihrer Mutter als zweite Konkubine ihr innerhalb der Familienhierarchie kaum mehr Einfluß gewährte als einem der Dienstboten. Die vierundsechzigjährige Ehefrau und die zweiundfünfzigjährige erste Konkubine waren auf Kittys junge und attraktive Mutter eifersüchtig und mühten sich nach Kräften, ihre Position in der Familie zu schwächen. Wie Kitty sich Zimmer gegenüber ausdrückte, glich das Ganze ein wenig dem Leben am chinesischen Kaiserhof, mit all den damit verbundenen Rivalitäten und Zwistigkeiten, den heimlichen Machenschaften, den verstohlenen Intrigen und falschen freundlichen Mienen. Der General selbst ließ sich selten blicken. Wenn er keine amtlichen Pflichten zu erfüllen hatte, verbrachte er die meiste Zeit mit der Pflege seiner zärtlichen Beziehungen zu diversen jungen Frauen von mehr als zweifelhaftem Charakter. Tokio war reich an Verführungen, Gelegenheiten zu solchen Tändeleien boten sich in Hülle und Fülle. Schließlich legte er sich eine Mätresse zu, richtete ihr eine schicke Wohnung ein und gab verschwenderische Summen aus, um sie bei Laune zu halten: kaufte ihr Kleider, Schmuck und sogar einen Sportwagen. Auf Dauer war all das jedoch nicht genug, und nicht einmal eine schmerzhafte und kostspielige Kur zur Stärkung seiner Potenz konnte den Lauf der Dinge aufhalten. Die Mätresse begann sich anderweitig umzusehen, und als der General eines Nachts unangemeldet bei ihr hereinplatzte, fand er sie in den Armen eines Jüngeren. Die folgende Rauferei war schrecklich: Kreischen, scharfe Fingernägel, ein zerrissenes, blutbeschmiertes Hemd. Der närrische alte Mann hatte ausgeträumt. Er ging nach Hause,
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