Mond über Manhattan
nächsten Morgen trug er eine gewöhnliche Rezeptbrille mit Metallrahmen und grotesk dicken Gläsern, die seine Augen vergrößerten und verzerrten, so daß sie groß wie Vogeleier wirkten, wie hervorquellende blaue Kugeln, die ihm aus dem Kopf zu springen schienen. Es war kaum zu beurteilen, ob diese Augen sehen konnten oder nicht. Manchmal war ich überzeugt, das alles sei ein einziger Bluff, und er könne genauso scharf sehen wie ich; manchmal war ich ebenso überzeugt, daß er vollkommen blind sei. Genau das war natürlich Effings Absicht. Er sandte vorsätzlich mehrdeutige Signale aus, ergötzte sich dann an der Unsicherheit, die sie hervorriefen, und weigerte sich hartnäckig, die wahren Tatsachen zu enthüllen. An manchen Tagen ließ er die Augen unbedeckt, trug weder Augenklappen noch Brillen. An anderen Tagen kam er mit einer schwarzen Augenbinde herein, die um seinen Kopf gebunden war, was ihm das Aussehen eines Gefangenen verlieh, der vor ein Erschießungskommando geführt wird. Es war mir unmöglich herauszufinden, was diese verschiedenen Verkleidungen zu bedeuten hatten. Er äußerte sich nie dazu, und ich hatte nie den Mut, danach zu fragen. Entscheidend sei, so stellte ich für mich fest, mich nicht von seinen Mätzchen aus der Ruhe bringen zu lassen. Mochte er machen, was er wollte; solange ich ihm nicht in die Falle ging, konnte all das mich nicht berühren. Jedenfalls redete ich mir das ein. Trotz meiner Entschlossenheit fiel es mir jedoch manchmal schwer, mich seiner zu erwehren. Besonders an den Tagen, wenn er seine Augen unbedeckt ließ, ertappte ich mich oft dabei, wie ich in sie hineinstarrte, ich konnte einfach nicht anders, war wehrlos ihrer Anziehungskraft ausgeliefert. Es war, als suchte ich irgendeine Wahrheit in ihnen zu entdecken, irgendeine Öffnung, die mich unmittelbar in das Dunkel seines Schädels führen würde. Das half freilich nichts. So viele hundert Stunden ich auch in Effings Augen starrte, sie haben mir nie das geringste verraten.
Er hatte die Bücher alle im voraus ausgewählt und wußte ganz genau, was er hören wollte. Diese Lesungen dienten nicht der Entspannung, sondern der beharrlichen Erforschung bestimmter, eng umschriebener Themenbereiche. Damit wurden mir seine Motive kein bißchen klarer, doch immerhin war dem Ganzen eine gewisse unterirdische Logik nicht abzusprechen. Als erstes wurde eine Reihe von Reisebüchern durchgenommen, und zwar hauptsächlich Bücher über Reisen ins Unbekannte und die Entdeckung neuer Welten. Wir begannen mit den Reisen von St. Brendan und Sir John de Mandeville, machten dann weiter mit Kolumbus, Cabeza de Vaca und Thomas Harriot. Wir lasen Auszüge aus Doughtys Reisen in Arabia Deserta, kämpften uns durch den kompletten Bericht John Wesley Powells über seine Expedition zur Kartographierung des Colorado River und endeten schließlich bei der Lektüre einer Reihe von Entführungsgeschichten aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, Augenzeugenberichten weißer Siedler, die von Indianern verschleppt worden waren. Ich fand diese Bücher durchweg interessant und entwickelte wohl auch, nachdem meine Stimme sich daran gewöhnt hatte, über längere Zeitabschnitte zu arbeiten, einen angemessenen Vortragsstil. Dabei kam es vor allem auf eine klare Aussprache an, die wiederum vom Tonfall, von raffinierten Pausen und einer steten Aufmerksamkeit auf das zu Lesende abhing. Effing machte selten irgendwelche Bemerkungen, während ich las, doch an den Geräuschen, die er gelegentlich von sich gab, wenn wir an eine besonders verwickelte oder aufregende Stelle kamen, merkte ich, daß er mir zuhörte. Es waren wohl diese Lesestunden, in denen ich mich ihm am stärksten verbunden fühlte, doch erkannte ich bald, daß ich seine schweigende Konzentration nicht mit Wohlwollen verwechseln durfte. Nach dem dritten oder vierten Reisebuch deutete ich beiläufig an, es könnte ihm vielleicht gefallen, sich ein paar Kapitel aus Cyranos Reise zum Mond anzuhören. Dieser Vorschlag entlockte ihm nur ein böses Knurren. «Behalten Sie Ihre Ideen für sich, Junge», sagte er. «Wenn ich Ihre Meinung hören wollte, würde ich danach fragen.»
An der hinteren Wand des Wohnzimmers stand ein Bücherschrank, der vom Boden bis zur Decke reichte. Ich weiß nicht, wie viele Bücher in diesen Regalen waren, aber es dürften mindestens fünf- bis sechshundert, vielleicht auch tausend gewesen sein. Effing schien den Standort jedes einzelnen davon zu kennen, und wenn
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