Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
sind.»
    «Mit anderen Worten, Sie betrachten nichts als selbstverständlich.»
    «Das kann gefährlich sein. Es kommt häufig vor, daß Dinge anders sind, als sie scheinen, und man kann sich in Schwierigkeiten bringen, wenn man zu schnelle Schlüsse zieht.»
    «Und meine Beine?»
    «Diese Frage kommt mir etwas leichter vor. So wie sie unter der Decke aussehen, scheinen sie verkümmert und atrophisch, was darauf hinweisen könnte, daß sie seit vielen Jahren nicht mehr gebraucht wurden. Sollte das der Fall sein, dürfte man mit Fug und Recht vermuten, daß Sie nicht gehen können. Vielleicht haben Sie noch nie gehen können.»
    «Ein alter Mann, der nicht sehen und nicht gehen kann. Was halten Sie davon, Junge?»
    «Ich möchte meinen, daß ein solcher Mann mehr auf andere angewiesen ist, als ihm lieb sein kann.»
    Effing grunzte, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und erhob sein Gesicht zur Decke. In den nächsten zehn oder fünfzehn Sekunden sprach keiner von uns ein Wort.
    «Was für eine Stimme haben Sie, Junge?» fragte er schließlich.
    «Ich weiß nicht. Wenn ich spreche, kann ich sie nicht richtig hören. Die wenigen Male, wo sie mir auf einem Tonbandgerät vorgespielt wurde, fand ich sie schrecklich. Aber das geht anscheinend jedem so.»
    «Ist sie ausdauernd?»
    «Ausdauernd?»
    «Hält sie lange durch. Können Sie zwei oder drei Stunden reden, ohne heiser zu werden. Können Sie mir einen ganzen Nachmittag lang vorlesen, ohne daß Ihre Zunge ermüdet. Das verstehe ich unter ausdauernd.»
    «Ja, ich glaube, das kann ich.»
    «Wie Sie selbst bemerkt haben, habe ich mein Augenlicht verloren. Meine Beziehung zu Ihnen wird auf Worte gründen, und wenn Ihre Stimme nicht ausdauernd ist, nützen Sie mir überhaupt nichts.»
    «Ich verstehe.»
    Effing beugte sich wieder vor und machte dann eine dramatische Pause. «Haben Sie Angst vor mir, Junge?»
    «Nein, ich glaube nicht.»
    «Das sollten Sie aber. Falls ich mich entschließe, Sie einzustellen, werden Sie lernen, was Angst ist, das garantiere ich Ihnen. Ich mag weder sehen noch gehen können, aber ich verfüge über andere Kräfte, Kräfte, die nur wenige Menschen je beherrscht haben.»
    «Was für Kräfte?»
    «Geistige Kräfte. Eine Willenskraft, mit der ich die stoffliche Welt in jede von mir gewünschte Form bringen kann.»
    «Telekinese.»
    «Ja, wenn Sie so wollen. Telekinese. Erinnern Sie sich an den Stromausfall vor einigen Jahren?»
    «Im Herbst 1965.»
    «Ganz recht. Ich war es, der ihn verursacht hat. Ich hatte kurz zuvor das Augenlicht verloren, und eines Tages saß ich hier allein in diesem Zimmer und verfluchte mein Schicksal. Gegen fünf Uhr sagte ich mir: Ich wünschte, die ganze Welt müßte in derselben Dunkelheit leben wie ich. Kaum eine Stunde später gingen in der Stadt sämtliche Lichter aus.»
    «Das kann Zufall gewesen sein.»
    «Es gibt keinen Zufall. Nur Ignoranten gebrauchen dieses Wort. Alles in der Welt besteht aus Elektrizität, belebte und leblose Dinge gleichermaßen. Sogar Gedanken geben elektrische Ladung ab. Wenn sie stark genug sind, können die Gedanken eines Menschen die Welt um ihn her verändern. Vergessen Sie das nicht, Junge.»
    «Ich werde es nicht vergessen.»
    «Und Sie, Marco Stanley Fogg, über welche Kräfte verfügen Sie?»
    «Keine, soweit mir bekannt ist. Ich verfüge über die normalen menschlichen Kräfte, nehme ich an, aber darüber hinaus ist nichts. Ich kann essen und schlafen. Ich kann von einem Ort zum andern gehen. Ich kann Schmerz empfinden. Gelegentlich kann ich sogar denken.»
    «Ein Volksverhetzer. Sind Sie so einer, Junge?»
    «Kaum. Ich bezweifle, daß ich irgend jemand zu irgend etwas überreden könnte.»
    «Also ein Opfer. Es gibt nur das eine oder das andere. Entweder man handelt, oder man wird behandelt.»
    «Wir alle sind Opfer von irgend etwas, Mr. Effing. Und wenn auch nur Opfer der Tatsache, daß wir leben.»
    «Sind Sie sicher, daß Sie leben, Junge? Vielleicht bilden Sie sich das nur ein.»
    «Alles ist möglich. Es ist möglich, daß Sie und ich Einbildungen sind, daß wir gar nicht richtig hier sind. Ja, ich bin bereit, das als Möglichkeit zu akzeptieren.»
    «Können Sie den Mund halten?»
    «Wenn es verlangt wird, kann ich so gut schweigen wie jeder andere, nehme ich an.»
    «Und wer soll das sein, Junge?»
    «Eben jeder. Das sagt man so. Ich kann reden oder schweigen, je nachdem, was die Situation erfordert.»
    «Wenn ich Sie einstelle, Fogg, werden Sie mich vermutlich bald hassen.

Weitere Kostenlose Bücher