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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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überhaupt bald feststellen. Mr. Thomas sagt einem nur, was er einem sagen will.»
    Mein Zimmer lag am Ende eines langen Flurs. Es war ein karger kleiner Raum mit nur einem Fenster, das auf die Gasse hinter dem Haus hinaus ging, ein primitiver Verschlag von der Größe einer Klosterzelle. Derlei Terrain war mir vertraut, und ich brauchte nicht lange, um mich inmitten der äußerst bescheidenen Möbel wie zu Hause zu fühlen: einem altmodischen eisernen Bettgestell mit vertikalem Gitter an beiden Enden, einer Kommode mit Schubladen und an einer Wand einem Bücherregal, in dem hauptsächlich französische und russische Bücher standen. Nur ein Bild hing in dem Zimmer, eine große Radierung in schwarzem Lackrahmen, die Darstellung einer mythologischen Szene, bevölkert von menschlichen Gestalten und überladen mit architektonischen Details. Später erfuhr ich, daß es sich um eine Schwarzweiß-Kopie einer der Tafeln aus einer Reihe von Gemälden von Thomas Cole handelte, einer visionären Saga von Aufstieg und Fall der Neuen Welt, die den Titel The Course of Empire führte. Ich packte meine Kleider aus und stellte fest, daß mein ganzer Besitz bequem in der obersten Schublade der Kommode Platz fand. Ich hatte nur ein Buch bei mir, eine Taschenbuchausgabe von Pascals Pensees, die Zimmer mir zum Abschied geschenkt hatte. Ich legte es vorläufig aufs Kopfkissen und trat dann einen Schritt zurück, um mein neues Zimmer zu betrachten. Es war nicht viel, aber es war mein. Nach so vielen Monaten der Ungewißheit tröstete es mich schon, innerhalb dieser vier Wände stehen zu können und zu wissen, daß es jetzt einen Ort auf der Welt gab, den ich mein eigen nennen konnte.
    Während der ersten zwei Tage regnete es ununterbrochen.
    Wir hatten keine Chance, nachmittags spazierenzugehen, und verbrachten daher die ganze Zeit im Wohnzimmer. Effing war nicht mehr so aggressiv wie beim Vorstellungsgespräch, die meiste Zeit saß er schweigend da und lauschte dem, was ich ihm vorlas. Ich konnte dieses Schweigen nur schwer beurteilen; wollte er mich damit auf eine mir unverständliche Weise testen, oder entsprach es einfach seiner Stimmung? Solange ich bei Effing wohnte, gelang es mir nie, sein Verhalten befriedigend zu deuten; entweder vermutete ich irgendwelche dunklen Absichten dahinter, oder ich tat es als Ausfluß willkürlicher Launen ab. Was er zu mir sagte, die Bücher, die er mir zum Vorlesen aussuchte, die seltsamen Besorgungen, die er mir auftrug - gehörte all das zu einem ausgeklügelten, undurchschaubaren Plan, oder erscheint es mir erst im nachhinein so? Zuweilen hatte ich das Gefühl, er versuche mir irgendein mysteriöses und obskures Wissen zu vermitteln, er betätige sich als selbsternannter Mentor meiner inneren Entwicklung, jedoch ohne mich etwas davon merken zu lassen, als ob er mich zur Teilnahme an einem Spiel zwänge, jedoch ohne mir die Spielregeln zu erklären. Dann erschien Effing als überspannter spiritueller Führer, als exzentrischer Meister, der sich mühte, mich in die Geheimnisse der Welt einzuweihen. Zuweilen, wenn Egoismus und Arroganz mit ihm durchgingen, erschien er mir aber auch lediglich als ein boshafter alter Mann, als ein ausgebrannter Irrer, der im Grenzbereich zwischen Wahnsinn und Tod vor sich hin existierte. Jedenfalls bekam ich von ihm eine Menge Beschimpfungen zu hören, und bald war ich seiner überdrüssig, auch wenn er mich gleichzeitig immer stärker faszinierte. Ich war mehrmals kurz davor aufzugeben, aber Kitty überredete mich jedesmal zu bleiben; und letztlich glaube ich sogar, daß ich selbst ebenfalls bleiben wollte, auch wenn es mir so vorkam, als könnte ich es keine Minute mehr bei ihm aushalten. Ganze Wochen vergingen, in denen ich es kaum über mich brachte, meinen Blick in seine Richtung zu wenden, in denen ich mich zusammenreißen mußte, um nur im selben Raum mit ihm zu sitzen. Aber ich habe die Sache durchgestanden, bis zum bitteren Ende.
    Auch wenn er noch so milde gestimmt war, gefiel Effing sich darin, kleine Überraschungen auszuhecken. An jenem ersten Vormittag zum Beispiel kam er mit einer dunklen Blindenbrille ins Zimmer gerollt. Die schwarzen Augenklappen, die beim Vorstellungsgespräch eine so lange Diskussion ausgelöst hatten, waren nirgends zu sehen. Effing äußerte sich mit keinem Wort zu dieser Änderung. Ich dachte an seinen Rat und nahm an, dies sei einer jener Fälle, wo ich den Mund halten sollte, und äußerte mich daher ebenfalls nicht dazu. Am

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