Mond über Manhattan
ein neues Buch an die Reihe kam, sagte er mir genau, wo es zu holen war. «Zweites Regal», sagte er etwa, «das zwölfte oder fünfzehnte von links. Lewis und Clark. Roter Leineneinband.» Er irrte sich nie, und ich mußte ihn einfach bewundern, je mehr die Beweise für die Kraft seiner Erinnerung sich häuften. Einmal fragte ich ihn, ob er mit den mnemotechnischen Systemen von Cicero und Raymond Lull vertraut sei, aber er tat meine Frage mit einer Handbewegung ab. «So was kann man nicht lernen», sagte er. «Ein solches Talent ist angeboren, ein Geschenk der Natur.» Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann in verschlagenem, spöttischem Ton fort: «Aber wie können Sie sicher sein, daß ich weiß, wo die Bücher stehen? Denken Sie mal drüber nach. Vielleicht schleiche ich nachts hier herum und ordne sie neu, während Sie schlafen. Oder vielleicht bewege ich die Bücher durch Telepathie, wenn Sie nicht hinsehen. Kann das nicht sein junger Mann?» Ich faßte das als rhetorische Frage auf und äußerte keinerlei Widerspruch. «Denken Sie immer daran, Fogg», fuhr er fort, «betrachten Sie nie etwas als selbstverständlich. Besonders, wenn Sie es mit einem Menschen wie mir zu tun haben.»
Diese ersten beiden Tage, in denen draußen der kräftige Novemberregen an die Fenster schlug, verbrachten wir ausschließlich im Wohnzimmer. Es war sehr still in Effings Haus, und manchmal, wenn ich beim Lesen Luft holte, war als lautestes Geräusch das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims zu hören. Gelegentlich war aus der Küche Mrs. Hume zu vernehmen, und von unten drang der gedämpfte Lärm des Verkehrs zu uns hinauf, das Rauschen der Reifen auf den regennassen Straßen. Es war eigenartig und angenehm zugleich, so im Haus zu sitze n, während die Welt draußen ihren Geschäften nachging, und die Bücher dürften dieses Gefühl der Distanz noch verstärkt haben. Alles darin war weit weg, schattenhaft, voller Wunder: ein irischer Mönch, der im Jahre 500 über den Atlantik segelte und eine Insel entdeckte, die er für das Paradies hielt; das mythische Königreich von Prester John; ein einarmiger amerikanischer Wissenschaftler, der mit den Zuni-Indianern von New Mexico die Friedenspfeife rauchte. Stunden verstrichen, und keiner von uns rührte sich vom Fleck, Effing im Rollstuhl, ich ihm gegenüber auf dem Sofa, und manchmal nahm mich das, was ich da las, so ein, daß ich kaum noch wußte, wo ich war, daß ich das Gefühl hatte, gar nicht mehr in meiner Haut zu stecken.
Das Mittag- und das Abendessen nahmen wir täglich um zwölf und sechs Uhr im Speisezimmer zu uns. Effing hielt sich sehr genau an diese Zeiten, und sobald Mrs. Hume ihren Kopf durch die Tür steckte und verkündete, das Essen sei fertig, wandte er seine Aufmerksamkeit abrupt von dem jeweiligen Buch ab, wobei es keine Rolle spielte, wo in der Geschichte wir uns gerade befanden. Selbst wenn es nur noch eine oder zwei Seiten bis zum Ende waren, ließ Effing mich mitten im Satz abbrechen. «Zeit zum Essen», sagte er dann, «wir machen später damit weiter.» Nicht daß er besonders hungrig gewesen wäre - tatsächlich aß er nur sehr wenig -, sein Bedürfnis nach einem rational und streng geregelten Tagesablauf war einfach zu stark. Ein paarmal schien es ihm aufrichtig leid zu tun, daß wir unsere Lektüre unterbrechen mußten, doch ging das nie so weit, daß er deswegen von seinem Zeitplan abzuweichen bereit war. «Schade», sagte er einmal. «Ausgerechnet jetzt, wo es interessant wird.» Als das zum erstenmal geschah, bot ich ihm an, noch eine Weile weiterzulesen. «Unmöglich», sagte er. «Wir dürfen flüchtigen Vergnügen zuliebe doch nicht den Lauf der Welt stören. Morgen ist dafür auch noch Zeit.»
Effing aß nicht viel, aber das wenige, das er aß, vertilgte er unter irrsinnig lautem Grunzen und Sabbern. Der Anblick dieses Spektakels widerte mich an, aber mir blieb keine Wahl, ich mußte es ertragen. Wann immer Effing spürte, daß ich ihn anstarrte, gab er sogleich eine Salve noch üblerer Widerwärtigkeiten zum besten: Er ließ das Essen aus seinem Mund übers Kinn sickern, rülpste, täuschte Übelkeit und Herzattacken vor, nahm seine falschen Zähne heraus und legte sie auf den Tisch. Besonders gern aß er Suppen, und im Lauf des Winters begannen wir jede Mahlzeit mit einer anderen. Mrs. Hume kochte diese Suppen selbst, köstliche Gemüsesuppen und Kressesuppe und Lauch-und-Kartoffel-Suppe, aber mir graute schon bald vor dem Augenblick, da ich mich
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