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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Bedenken Sie nur immer, daß alles zu Ihrem eigenen Besten ist. Alles, was ich tue, hat seinen verborgenen Sinn, und Sie haben nicht darüber zu urteilen.»
    «Ich werde mich bemühen, mir das zu merken.»
    «Gut. Jetzt kommen Sie her, ich will Ihre Muskeln fühlen. Ich kann mich doch nicht von einem Schwächling durch die Straßen schieben lassen, oder? Wenn Ihre Muskeln das nicht schaffen, nützen Sie mir überhaupt nichts.»
    Am Abend nahm ich Abschied von Zimmer, und am nächsten Morgen packte ich die wenigen Sachen, die mir gehörten, in meinen Rucksack und fuhr in den Norden der Stadt zu Effings Wohnung. Wie der Zufall es wollte, sah ich Zimmer in den nächsten dreizehn Jahren nicht wieder. Die Umstände brachten uns auseinander, und als er mir im Frühjahr 1982 an der Einmündung der Varick Street in den West Broadway in Lower Manhattan schließlich zufällig über den Weg lief, hatte er sich so sehr verändert, daß ich ihn zuerst gar nicht erkannte. Er war zwanzig oder dreißig Pfund schwerer, und wie er da so mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Söhnen entlangging, fiel mir vor allem seine völlig konventionelle Erscheinung auf: der Wanst und das lichter werdende Haar der frühen mittleren Jahre, der milde, gedankenverlorene Blick des gestandenen Familienvaters. Wir gingen in entgegengesetzte Richtungen und aneinander vorbei. Dann hörte ich ihn ganz plötzlich meinen Namen rufen. Ich nehme an, es kommt häufig vor, daß man jemanden aus seiner Vergangenheit wiedertrifft, aber der Anblick Zimmers rührte eine ganze Welt vergessener Dinge in mir auf. Es spielte kaum eine Rolle, was aus ihm geworden war, daß er irgendwo in Kalifornien an einer Universität lehrte, daß er eine 400-Seiten-Studie über den französischen Film veröffentlicht hatte, daß er seit über zehn Jahren kein einziges Gedicht mehr geschrieben hatte. Was zählte, war einfach, daß ich ihn gesehen hatte. Wir standen da fünfzehn oder zwanzig Minuten an der Ecke und sprachen von den alten Zeiten, und dann zog er mit seiner Familie davon, wohin auch immer sie ziehen mochten. Seither habe ich nichts mehr von ihm gesehen oder gehört, aber ich vermute, diese Begegnung vor vier Jahren hat den ersten Anstoß dazu gegeben, dieses Buch zu schreiben, und zwar kam mir die Idee genau in dem Moment, als Zimmer im Gewühl verschwand und ich ihn wieder aus den Augen verlor.
    In Effings Wohnung bat Mrs. Hume mich zunächst auf eine Tasse Kaffee in die Küche. Mr. Effing halte noch seinen Vormittagsschlaf, sagte sie, vor zehn Uhr werde er nicht wach sein. Bis dahin erzählte sie mir, welche Pflichten ich im Haus zu übernehmen hätte, wann die Mahlzeiten eingenommen würden, wie viele Stunden ich täglich mit Effing verbringen müsse und so weiter. Während sie sich um die «Körperarbeit» kümmerte, wie sie sich ausdrückte, ihn ankleidete und wusch, ihm beim Aufstehen und Zubettgehen half, ihn rasierte, ihn auf die Toilette brachte und wieder abholte, waren meine Aufgaben ein wenig komplizierter und weniger genau festgelegt. Ich war nicht ausdrücklich als sein Freund eingestellt, aber doch als etwas sehr Ähnliches: als mitfühlender Gefährte, als ein Mensch, der die Monotonie seiner Einsamkeit auflockern sollte. «Der Mann hat weiß Gott nicht mehr viel Zeit übrig», sagte sie. «Das wenigste, was wir tun können, ist, dafür zu sorgen, daß seine letzten Tage nicht allzu unglücklich sind.» Ich sagte, das verstünde ich.
    «Ein junger Mensch in seiner Umgebung wird seine Laune verbessern», fuhr sie fort. «Von meiner Laune ganz zu schweigen.»
    «Ich bin nur froh, daß ich den Job habe», sagte ich.
    «Ihre Unterhaltung gestern hat ihm gefallen. Er sagte, Sie hätten ihm gute Antworten gegeben.»
    «Eigentlich wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Manchmal kann man ihm nur schwer folgen.»
    «Als ob ich das nicht wüßte. Aber er brütet ständig irgendwas aus. Er spinnt ein bißchen, aber senil würde ich ihn nicht nennen.»
    «Nein, er ist ein schlauer Fuchs. Vermutlich wird er mich ständig auf Zack halten.»
    «Er hat mir erzählt, Sie hätten eine angenehme Stimme. Das ist immerhin ein verheißungsvoller Anfang.»
    «Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß er das Wort angenehm benutzt.»
    «Es mag nicht genau dieses Wort gewesen sein, aber es lief darauf hinaus. Er sagte, Ihre Stimme erinnere ihn an jemand, den er früher mal gekannt habe.»
    «Hoffentlich jemand, den er gemocht hat.»
    «Das hat er mir nicht gesagt. Das werden Sie

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