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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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nur als solchen zu betrachten. Hätte er ausschließlich aus Gehässigkeit und schlechter Laune bestanden, wären seine Stimmungen ja vorhersehbar gewesen, und man hätte leichter mit ihm umgehen können. Man hätte gewußt, was von ihm zu erwarten war; man hätte sich auf ihn eingestellt. Dafür war der Alte jedoch nicht zuverlässig genug. Schwierig war er vor allem deshalb, weil er nicht immer schwierig war; eben dadurch gelang es ihm, einen in ständiger Unsicherheit zu halten. Ganze Tage vergingen, an denen nichts als bittere Sarkasmen aus seinem Mund strömten, doch kaum war ich endlich überzeugt, daß kein bißchen Freundlichkeit oder menschliches Mitgefühl mehr in ihm übrig sei, machte er irgendeine Bemerkung von so überwältigender Anteilnahme, äußerte etwas, das ein so tiefes Verständnis für seine Mitmenschen offenbarte, daß ich mir eingestehen mußte, ihn falsch beurteilt zu haben: er war am Ende doch nicht so schlecht, wie ich gedacht hatte. Nach und nach begann ich an Effing eine andere Seite wahrzunehmen. Ich würde nicht so weit gehen, sie als sentimentale Seite zu bezeichnen, aber manchmal kam es dem doch sehr nahe. Anfangs wollte ich das als Theater abtun, als einen Trick, der mich aus dem Gleichgewicht bringen sollte, aber das hätte ja bedeutet, daß Effing diese milderen Anwandlungen im voraus geplant hätte, während sie sich doch in Wirklichkeit ganz spontan aus irgendwelchen zufälligen Ereignissen oder Gesprächen zu ergeben schienen. Wenn jedoch diese gute Seite Effings echt war, warum zeigte er sie dann nicht öfter? War sie nur eine Verirrung seines wahren Ichs, oder war sie der eigentliche Kern seines Wesens? Ich bin nie zu einem endgültigen Schluß darüber gelangt, außer vielleicht dem, daß es unmöglich sei, eine dieser beiden Möglichkeiten auszuschließen. Effing war beides auf einmal. Er war ein Ungeheuer, zugleich aber hatte er die Anlage zu einem guten Menschen, einem Mann, den ich zuweilen sogar bewundern konnte. Das hinderte mich daran, ihn so gründlich zu hassen, wie ich es gern getan hätte. Da ich ihn nicht auf Grund eines einzelnen bestimmten Gefühls aus meinen Gedanken verbannen konnte, mußte ich am Ende fast unablässig an ihn denken. Ich begann ihn als gequälte Seele zu betrachten, als einen Mann, der von seiner Vergangenheit gepeinigt wurde und mühsam irgendeinen verborgenen Schmerz zu verheimlichen suchte, der ihn von innen heraus verzehrte.
    Eine erste flüchtige Ahnung von diesem anderen Effing bekam ich beim Essen am zweiten Abend meines Aufenthalts bei ihm. Mrs. Hume stellte mir Fragen über meine Kindheit, und ich erwähnte, daß meine Mutter in Boston von einem Bus überfahren worden war. Effing, der dem Gespräch bis dahin keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hatte, legte plötzlich seine Gabel hin und wandte sein Gesicht in meine Richtung. Mit einem Tonfall, den ich noch nicht von ihm gehört hatte - voller Zärtlichkeit und Wärme -, sagte er: «Das ist furchtbar, Junge. Wirklich furchtbar.» Nichts wies daraufhin, daß er es nicht ehrlich meinte. «Ja», sagte ich, «die Sache hat mich schwer getroffen. Ich war erst elf, als es geschah, und ich habe meine Mutter lange danach vermißt. Um ganz ehrlich zu sein, ich vermisse sie noch immer.» Mrs. Hume schüttelte den Kopf, als ich das sagte, und ich sah, wie ihre Augen sich mit einem traurigen Glanz überzogen. Nach einer kurzen Pause meinte Effing: «Autos sind eine Seuche. Wenn wir nicht aufpassen, werden sie uns noch alle erwischen. Dasselbe passierte vor zwei Monaten meinem russischen Freund. Eines schönen Morgens ging er aus dem Haus, um eine Zeitung zu kaufen, trat vom Bordstein, um den Broadway zu überqueren, und wurde von einem gottverdammten gelben Ford über den Haufen gefahren. Der Fahrer raste einfach weiter, hielt nicht mal an. Wenn dieser Irre nicht gewesen wäre, säße Pavel heute noch auf dem Stuhl, auf dem jetzt Sie sitzen, Fogg, und würde genau die Bissen essen, die jetzt Sie zu sich nehmen. Statt dessen liegt er in irgendeinem vergessenen Winkel von Brooklyn sechs Fuß unter der Erde.»
    «Pavel Shum», ergänzte Mrs. Hume. «Er hat in den dreißiger Jahren in Paris für Mr. Thomas zu arbeiten angefangen.»
    «Damals hieß er noch Shumansky, aber als wir neununddreißig nach Amerika kamen, hat er den Namen gekürzt.»
    «Das erklärt die ganzen russischen Bücher in meinem Zimmer», sagte ich.
    «Die russischen Bücher, die französischen Bücher, die deutschen Bücher»,

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