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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Künstler. Stellen Sie sich das mal vor, Fogg. Ich war so alt wie Sie jetzt, und ich hatte alles, aber auch wirklich alles, was ich haben wollte.
    Ich habe Tesla wiedergesehen, aber das war später, viel später. Nach meinem Verschwinden, nach meinem Tod, nachdem ich Amerika verlassen hatte und wieder zurückgekommen war. Neunzehnneununddreißig, neunzehnvierzig. Ich ging mit Pavel Shum aus Frankreich weg, bevor die Deutschen einmarschierten, wir packten unsere Koffer und fuhren ab. Das war kein Land mehr für uns, kein Land für einen verkrüppelten Amerikaner und einen russischen Dichter, es hatte keinen Sinn mehr, dort zu bleiben. Zunächst dachten wir an Argentinien, aber dann sagte ich mir: Scheiß drauf, vielleicht kommen die Säfte ja wieder in Schwung, wenn ich New York wiedersehe. Ich war immerhin zwanzig Jahre weg gewesen. Als wir ankamen, hatte gerade die Weltausstellung begonnen. Noch ein Loblied auf den Fortschritt, aber nach dem, was ich in Europa gesehen hatte, konnte es mich nicht sonderlich beeindrucken. War alles nur Blendwerk. Der Fortschritt würde uns noch alle in die Luft sprengen, das konnte jeder Esel sehen. Sie sollten sich mal mit Charlie Bacon treffen, dem Bruder von Mrs. Hume. War im Krieg Pilot. Gegen Ende mußte er nach Utah, zum Training mit der Gruppe, die dann die Atombombe auf Japan geworfen hat. Als er dahinterkam, was sich da abspielte, hat er den Verstand verloren. Der arme Teufel, wer kann ihm einen Vorwurf machen? Da haben Sie Ihren Fortschritt. Jeden Monat eine größere und bessere Mausefalle. Demnächst werden wir in der Lage sein, alle Mäuse auf einen Schlag zu töten.
    Ich war wieder in New York, und Pavel und ich begannen in der Stadt herumzuspazieren. So wie wir es heute machen, Rollstuhl schieben, stehenbleiben, um sich etwas anzusehen, aber viel länger, wir waren ganze Tage lang unterwegs. Pavel war zum erstenmal in New York, und ich zeigte ihm die Sehenswürdigkeiten; wir zogen von einem Stadtteil zum anderen, wobei ich mich selbst wieder mit der Stadt vertraut zu machen versuchte. Im Sommer neununddreißig besuchten wir eines Tages die öffentliche Bücherei Ecke 42nd und 5th und legten danach im Bryant Park eine Ruhepause ein. Und dort habe ich Tesla wiedergesehen. Pavel saß auf einer Bank neben mir, und kaum drei oder vier Meter von uns weg stand ein alter Mann und fütterte die Tauben. Die Vögel flatterten in Scharen um ihn herum, landeten auf seinem Kopf und seinen Armen, Dutzende von gurrenden Tauben, schissen ihm auf die Kleider und fraßen ihm aus den Händen, und der Alte redete auf sie ein, nannte die Vögel seine Lieblinge, seine Schätzchen, seine Engel. Sobald ich diese Stimme hörte, wußte ich, das war Tesla, und dann wandte er mir das Gesicht zu, und er war es wirklich. Ein achtzig Jahre alter Mann. Bleich wie ein Gespenst, hager, so häßlich anzusehen wie ich jetzt. Ich mußte lachen, als ich ihn sah. Das ehemalige Genie aus dem Weltraum, der Held meiner Jugend. Und jetzt nur noch ein gebrochener alter Mann, ein Penner. Sie sind Nikola Tesla, sagte ich zu ihm. Einfach so, ich hielt mich nicht mit Förmlichkeiten auf. Sie sind Nikola Tesla, sagte ich, ich kenne Sie von früher. Er lächelte mich an und machte eine kleine Verbeugung. Zur Zeit bin ich beschäftigt, sagte er, vielleicht können wir ein andermal miteinander reden. Ich wandte mich an Pavel und sagte: Geben Sie Mr. Tesla ein wenig Geld, Pavel, er kann es wahrscheinlich brauchen, um noch mehr Vogelfutter zu kaufen. Pavel stand auf, trat neben Tesla und hielt ihm einen Zehn-Dollar-Schein hin. Es war ein historischer Augenblick, Fogg, ein Augenblick, dem so bald keiner gleichkommt. Ha! Die Verblüffung in den Augen dieses Scheißkerls werde ich nie vergessen. Mr. Tomorrow, der Prophet einer neuen Welt! Pavel hielt ihm den Zehn-Dollar-Schein hin, und ich sah, wie er mit sich kämpfte, ihn zu ignorieren, seinen Blick von dem Geld loszureißen - aber er schaffte es nicht. Er stand einfach da und starrte es an, wie ein wahnsinniger Bettler. Und dann nahm er das Geld, riß es Pavel aus der Hand und schob es sich in die Tasche. Das ist sehr freundlich von Ihnen, sagte er, sehr freundlich. Die kleinen Lieblinge können jedes Krümelchen vertragen. Dann drehte er uns den Rücken zu und murmelte etwas zu den Vögeln. Dann schob Pavel mich weg, und das war’s. Ich habe ihn nie wiedergesehen.»
    Effing schwieg eine Weile, genoß die Erinnerung an seine Grausamkeit. Dann begann er, in gedämpfterem

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