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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Tonfall, von neuem. «Ich mache schon weiter, Junge», sagte er. «Keine Sorge. Sie brauchen nur mitzuschreiben, dann kann nichts schiefgehen. Am Ende wird alles gesagt sein, wird sich alles zeigen. Ich sprach von Long Island, oder? Von Thomas Moran, und wie die Sache ins Rollen kam. Sie sehen, ich habe es nicht vergessen. Schreiben Sie nur immer mit. Wenn Sie nicht mitschreiben, wird es keinen Nachruf geben.
    Moran hat mich dazu überredet. Er war in den siebziger Jahren im Westen gewesen, hatte die ganze Gegend von oben bis unten kennengelernt. Er reiste natürlich nicht allein, so wie Ralph, zog nicht wie ein unbedarfter Pilger durch die Wildnis, er hatte, wie soll ich sagen - sein Streben war auf etwas anderes gerichtet. Moran reiste mit Stil. Als offizieller Zeichner der Hayden-Expedition einundsiebzig; und dann noch einmal dreiundsiebzig zusammen mit Powell. Wir haben Powells Buch ja vor ein paar Monaten gelesen, die Illustrationen darin stammen alle von Moran. Erinnern Sie sich an das Bild von Powell, wo er, mit einer Hand verzweifelt an die Kante geklammert, an dem Felsen hängt? Gute Arbeit, das müssen Sie zugeben, der Alte konnte wirklich zeichnen. Moran wurde berühmt durch das, was er da draußen gemacht hat, er hat den Amerikanern gezeigt, wie es im Westen aussah. Das erste Gemälde vom Grand Canyon stammte von Moran, es hängt jetzt im Kapital in Washington; das erste Gemälde vom Yellowstone, das erste Gemälde von der großen Salzwüste, die ersten Gemälde von den Canyons im südlichen Utah - stammten alle von Moran. Auf in den Westen! Er wurde kartographiert, er wurde gemalt, er wurde von der großen amerikanischen Profitmaschinerie geschluckt und verdaut. Die letzten Teile des Kontinents, die leeren Räume, die noch keiner erforscht hatte. Und jetzt auf einmal war das alles auf einem schönen Stück Leinwand für jedermann ausgebreitet. Der goldene Nagel, der uns mitten ins Herz getrieben wurde!
    Nicht daß Sie denken, ich sei Moran als Maler ähnlich gewesen. Ich gehörte zur neuen Generation, und ich hatte mit diesem romantischen Mist nichts am Hut. Neunzehnhundertsechs und sieben war ich in Paris gewesen, und ich wußte, was sich da abspielte. Die Fauves, die Kubisten, von alldem hatte ich als junger Mensch Wind bekommen, und hat man erst einmal die Zukunft geschmeckt, gibt es kein Zurück mehr. Ich kannte die Clique von der Stieglitz-Galerie an der Fifth Avenue, wir gingen oft zusammen einen trinken und diskutierten über die Kunst. Denen gefiel meine Arbeit, sie propagierten mich als einen der neuen Obergurus. Marin, Dove, Demuth, Man Ray, ich habe sie alle gekannt. Ich war damals ein schlauer kleiner Teufel, mein Kopf steckte voller pfiffiger Ideen. Heutzutage spricht jeder von der Armory Show, aber als die Sache lief, war das für mich schon ein alter Hut. Trotzdem unterschied ich mich von den meisten anderen. Die Linie interessierte mich nicht. Mechanische Abstraktion, die Leinwand als Welt, intellektuelle Kunst - für mich waren das Sackgassen. Ich war ein Farbenkünstler, und mein Thema war der Raum, reiner Raum und Licht: die Gewalt des Lichts, wenn es ins Auge fällt. Ich arbeitete noch immer nach der Natur, und deswegen sprach ich gern mit jemandem wie Moran. Er war von der alten Garde, aber von Turner beeinflußt, und nicht nur das hatten wir gemeinsam, sondern auch eine Leidenschaft für Landschaften, eine Leidenschaft für die Wirklichkeit. Moran erzählte mir immer wieder vom Westen. Wenn Sie dort nicht hingehen, sagte er, werden Sie nie begreifen, was Raum ist. Ihre Arbeit wird sich nicht weiterentwickeln, wenn Sie die Reise nicht machen. Diesen Himmel müssen Sie einfach erleben, er wird Ihr Leben verändern. Und so immer weiter, immer dasselbe. Jedesmal, wenn wir uns sahen, fing er wieder damit an, und nach einer Weile sagte ich mir schließlich, warum nicht, es kann nicht schaden, wenn ich’s mir mal ansehe.
    Das war 1916. Ich war dreiunddreißig Jahre alt und seit etwa vier Wochen verheiratet. Diese Ehe ist der schlimmste Fehler meines Lebens gewesen. Elizabeth Wheeler hieß sie. Stammte aus einer reichen Familie, heiratete mich also nicht meines Geldes wegen, obwohl es, so wie die Dinge dann zwischen uns liefen, ebensogut auch deswegen hätte sein können. Ich kam schon bald hinter die Wahrheit. In unserer Hochzeitsnacht heulte sie wie ein Schulmädchen, und danach wurden die Schotten dichtgemacht. Oh, ab und zu stürmte ich die Burg noch einmal, aber eher aus Wut als aus

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