Mond über Manhattan
eine verdammte Märtyrerin. Ich werde das nie vergessen. Oh, Julian, sagte sie immer wieder, oh, mein geliebter Mann. Wie die meisten Verrückten wußte sie wahrscheinlich im voraus, was passieren würde, sie spürte wohl, daß die Dinge sich für immer ändern würden. Ich machte es an diesem Abend mit ihr - schließlich war das meine Pflicht -, doch ließ ich mich dadurch nicht davon abhalten, am nächsten Tag abzureisen. Übrigens habe ich sie da zum letztenmal gesehen. Sei’s drum. Ich berichte Ihnen nur die Fakten, Sie können damit machen, was Sie wollen. Diese Nacht hatte Konsequenzen, es wäre nachlässig von mir, sie nicht zu erwähnen, aber bis ich davon erfuhr, mußte eine lange Zeit vergehen. Dreißig Jahre, noch ein ganzes Leben. Konsequenzen. So geht das, Junge. Es gibt immer Konsequenzen, ob einem das gefällt oder nicht.
Byrne und ich nahmen den Zug. Chicago, Denver, den ganzen weiten Weg nach Salt Lake City. Damals war das eine endlose Reise, und als wir schließlich dort ausstiegen, hatte ich das Gefühl, ich wäre ein ganzes Jahr unterwegs gewesen. Es war April 1916. In Salt Lake trieben wir einen Mann auf, der als Führer für uns arbeiten sollte, aber noch am selben Nachmittag, glauben Sie’s oder nicht, verbrannte er sich das Bein in einer Schmiede, und wir mußten jemand anderen anheuern. Eds war ein schlechtes Omen, aber wenn man mittendrin steckt, denkt man so etwas nicht, sondern tut einfach, was zu tun ist. Wir fanden einen anderen. Jack Scoresby. Ein ehemaliger Kavalleriesoldat, achtundvierzig, fünfzig Jahre alt, für diese Gegend ein alter Mann, aber die Leute sagten uns, er kenne sich gut in dem Gebiet aus, genauso gut wie jeder andere, den wir finden könnten. Ich mußte ihnen Glauben schenken. Die Leute, mit denen ich sprach, waren Fremde, die hätten mir alles mögliche erzählen können, denen machte das nichts aus. Ich war bloß ein Greenhorn, ein reiches Greenhorn aus dem Osten, und mein Schicksal war denen scheißegal. Und so fing die Sache an, Fogg. Mir blieb keine Wahl, als mich blindlings hineinzustürzen und das Beste zu hoffen.
Scoresby war mir von Anfang an suspekt, aber wir wollten keine Zeit mehr verschwenden, waren einfach zu wild darauf, endlich aufzubrechen. Er war ein schmutziger kleiner Mann mit einer kichernden Lache, nichts als Backenbart und Büffelschmalz, aber er konnte gut reden, das will ich ihm zugestehen. Er versprach, uns an Stellen zu führen, wo noch kaum ein Mensch gewesen sei, wie er sich ausdrückte, er werde uns Dinge zeigen, die nur Gott und die Indianer je gesehen hätten. Klar, er nahm den Mund ziemlich voll, aber wir wurden trotzdem ganz aufgeregt. Im Hotel breiteten wir auf dem Tisch eine Karte aus und planten unsere Route. Scoresby schien zu wissen, wovon er redete, und ließ ständig irgendwelche beiläufigen Bemerkungen fallen, um mit seinem Wissen zu protzen: wie viele Pferde und Esel wir brauchen würden, wie man sich den Mormonen gegenüber zu verhalten habe, wie man mit dem Wassermangel im Süden fertig werde. Er hielt uns eindeutig für Idioten. Es war ihm unverständlich, daß Leute so weit reisten, bloß um die Landschaft anzuglotzen, und als ich ihm erzählte, daß ich Maler sei, konnte er sich kaum das Lachen verkneifen. Dennoch einigten wir uns, ganz gut, wie es schien, und besiegelten das Ganze per Handschlag. Ich nahm an, es würde sich schon alles einrenken, wenn wir uns erst einmal richtig kennenlernten.
Am Abend vor unserem Aufbruch blieben Byrne und ich lange auf und redeten. Er zeigte mir seine Feldmesser-Ausrüstung, und ich weiß noch, daß ich in jene erregte Stimmung geriet, die in einem aufsteigt, wenn sich plötzlich alles neu zusammenzufügen scheint. Byrne erzählte mir, daß man seine exakte Position auf der Erde nur bestimmen kann, wenn man irgendeinen Punkt am Himmel zu Hilfe nimmt. Hat was mit Triangulation zu tun, Vermessungstechnik, die Einzelheiten habe ich vergessen. Der entscheidende Punkt aber hat mich seither nicht mehr losgelassen. Der Mensch kann nicht herausfinden, wo auf der Erde er sich befindet, ohne den Mond oder einen Stern als Bezugspunkt zu benutzen. Zuerst kommt die Astronomie; erst daraus ergeben sich die Landkarten. Genau das Gegenteil von dem, was man erwarten sollte. Wenn man lange genug darüber nachdenkt, kann man sich glatt das Gehirn verrenken. Ein Hier existiert nur in bezug auf ein Da, nicht umgekehrt. Dies gibt es nur, weil es das gibt; wenn wir nicht nach oben schauen, werden wir
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