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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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diese Schuldgefühle waren mir ein Trost. Es waren menschliche Gefühle, Zeichen dafür, daß ich noch derselben Welt angehörte, in der auch andere Menschen lebten. Wäre Byrne erst einmal tot, gäbe es nichts mehr zu denken, und diese Leere machte mir angst, ängstigte mich halb zu Tode.
    Ich wußte, daß es hoffnungslos war, ich wußte es von Anfang an, aber ich klammerte mich beharrlich an die Illusion, daß er durchkommen würde. Er kam nicht mehr zu Bewußtsein, fing aber gelegentlich an zu lallen, so wie manche Leute es tun, wenn sie im Schlaf reden. Es waren fieberhaft unverständliche Worte, Geräusche, die nie ganz zu Worten wurden, aber jedesmal, wenn sie ertönten, glaubte ich, er sei kurz davor aufzuwachen. Er schien durch einen dünnen Schleier von mir getrennt zu sein, durch eine unsichtbare Membran, die ihn auf der anderen Seite dieser Welt festhielt. Ich versuchte ihm durch den Klang meiner Stimme Mut zu machen, ich sprach unablässig auf ihn ein, sang ihm Lieder vor, betete, daß endlich irgend etwas zu ihm durchdringen und ihn wecken möge. All das war völlig vergebens. Sein Zustand wurde immer schlechter. Ich konnte kein Essen in ihn hineinbringen, bestenfalls seine Lippen mit einem nassen Tuch betupfen, aber das war nicht genug, gab ihm keine Nahrung. Nach und nach sah ich seine Kräfte schwinden. Die Bauchwunde hatte zwar aufgehört zu bluten, verheilte aber nicht richtig. Sie war jetzt gelblichgrün, Eiter sickerte daraus hervor, auf dem Verband krabbelten Ameisen herum. Kein Mensch konnte so etwas überleben.
    Ich begrub ihn gleich dort am Fuß des Berges. Mit den Einzelheiten will ich Sie verschonen. Das Grab ausheben, seinen Körper an den Rand schleifen, spüren, wie er hinabfiel, als ich ihn hineinschob. Ich glaube, da hatte mich bereits der Wahnsinn gepackt. Konnte mich kaum dazu bringen, das Loch wieder aufzufüllen. Ihn zudecken, Erde auf sein lebloses Gesicht werfen - das war alles zuviel für mich. Ich tat es mit geschlossenen Augen, so löste ich das Problem schließlich; ohne hinzusehen schaufelte ich die Erde wieder da rein. Danach machte ich kein Kreuz und sagte auch keine Gebete auf. Scheiß auf Gott, sagte ich mir, scheiß auf Gott, den Gefallen tu ich ihm nicht. Ich steckte einen Stock in den Boden und befestigte ein Stück Papier daran. Edward Byrne, schrieb ich darauf, 1898 Bindestrich 1916. Begraben von seinem Freund Julian Barber. Dann fing ich an zu schreien. So ist das damals gewesen, Fogg. Sie sind der erste Mensch, dem ich das jemals erzählt habe. Ich fing an zu schreien, und danach gab ich mich einfach dem Wahnsinn hin.»

 
FÜNFTES KAPITEL
     
    Bis dahin kamen wir an diesem Tag. Als er den letzten Satz gesprochen hatte, machte Effing eine Pause, um Luft zu holen, und bevor er mit seiner Erzählung fortfahren konnte, kam Mrs. Hume herein und erklärte, es sei Zeit zum Mittagessen. Ich glaubte, nach all den schrecklichen Dingen, die er mir berichtet hatte, würde es ihm schwerfallen, seine Fassung wiederzugewinnen, aber die Unterbrechung schien ihn kaum zu berühren. «Gut», sagte er und klatschte einmal in die Hände, «Zeit zum Essen. Ich sterbe vor Hunger.» Es verblüffte mich, wie schnell er von einer Stimmung auf eine andere umschalten konnte. Sekunden zuvor noch hatte seine Stimme vor Erregung gebebt. Ich hatte gedacht, er stehe am Rand eines Zusammenbruchs, und plötzlich strahlte er nichts als Begeisterung und gute Laune aus. «Jetzt geht’s erst richtig los, Junge», sagte er zu mir, als ich ihn ins Speisezimmer schob. «Das war erst der Anfang, das, was man das Vorwort nennen könnte. Warten Sie nur, bis ich richtig warm geworden bin. Bis jetzt haben Sie noch gar nichts gehört.»
    Nachdem wir uns an den Tisch gesetzt hatten, war von dem Nachruf keine Rede mehr. Das Essen nahm seinen gewöhnlichen Lauf, mit der üblichen Untermalung von Schlürfen und greulichen Geräuschen, ganz genauso wie an jedem anderen Tag. Es war, als hätte Effing bereits vergessen, daß er die letzten drei Stunden damit verbracht hatte, mir im Nebenzimmer sein Herz auszuschütten. Wir machten unseren üblichen Small talk, und gegen Ende der Mahlzeit hielten wir zur Vorbereitung unseres Ausflugs am Nachmittag die tägliche Wetterbesprechung ab. So ging es dann drei oder vier Wochen lang weiter. An den Vormittagen arbeiteten wir an dem Nachruf; an den Nachmittagen machten wir unsere Spaziergänge. Über ein Dutzend Notizbücher schrieb ich mit Effings Erzählungen voll, im

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