Mond über Manhattan
Sterben, dachte er. Geschützt vor der Sonne, unerreichbar für die Geier, so versteckt gelegen, daß man ihn niemals finden würde. Er nahm seinen Mut zusammen und begann den mühsamen Aufstieg. Er brauchte fast zwei Stunden, und als er sein Ziel erreicht hatte, war er mit seinen Kräften so am Ende, daß er kaum noch stehen konnte. Die Höhle war wesentlich größer, als sie von unten ausgesehen hatte; überrascht stellte Effing fest, daß er nicht zu kriechen brauchte, um hineinzukommen. Er zog die Äste und Zweige weg, die den Eingang versperrten, und ging hinein. Wider Erwarten war die Höhle keineswegs leer. Sie erstreckte sich gut sieben Meter weit ins Innere des Felsens und enthielt mehrere Möbelstücke: einen Tisch, vier Stühle, einen Schrank, einen ramponierten Kanonenofen. In jeder Hinsicht ein eingerichteter Haushalt. Die Gegenstände sahen gut gepflegt aus, alles in dem Raum war ordentlich angeordnet, machte einen grobschlächtigen, aber behaglichen Eindruck von häuslicher Ordnung. Effing entzündete die Kerze auf dem Tisch und nahm sie mit in den hinteren Teil des Raumes, um die dunklen, vom Tageslicht nicht mehr erhellten Winkel zu erforschen. An der linken Wand fand er ein Bett, und in dem Bett lag ein Mann. Effing nahm an, daß der Mann schlief, doch als er sich, um seine Gegenwart anzuzeigen, räusperte und keine Antwort bekam, beugte er sich nieder und hielt dem Fremden die Kerze übers Gesicht. Erst da merkte er, daß der Mann tot war. Nicht einfach tot, sondern ermordet. Dort, wo sich das rechte Auge hätte befinden sollen, war ein großes Einschußloch. Das linke Auge starrte leer ins Dunkel, und das Kissen unter dem Kopf war voller Blut.
Effing wandte sich von der Leiche ab und ging zu dem Schrank zurück, den er voller Nahrungsmittel fand. Konservendosen, Salzfleisch, Mehl und andere Vorräte - die Regale enthielten genug, um ein Jahr davon leben zu können. Er machte sich gleich etwas zu essen, verzehrte einen halben Laib Brot und zwei Dosen Bohnen. Nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, machte er sich daran, die Leiche zu beseitigen. Er hatte bereits einen Plan ausgearbeitet; es ging nur noch darum, ihn in die Tat umzusetzen. Der Tote mußte ein Einsiedler gewesen sein, überlegte Effing, wer lebt sonst schon so allein in den Bergen; und falls das zutraf, wußten bestimmt nicht viele Leute, daß er dort wohnte. Allem Anschein nach (die Leiche war noch nicht verwest, keinerlei Gestank hatte sich ausgebreitet, das Brot war noch nicht vertrocknet) mußte der Mord erst vor kurzer Zeit stattgefunden haben, womöglich erst wenige Stunden zuvor - was bedeutete, daß nur der Mörder vom Tod dieses Mannes wußte. Nichts hinderte ihn daran, dachte Effing, den Platz des Einsiedlers einzunehmen. Sie waren etwa im gleichen Alter, etwa gleich groß, hatten beide hellbraunes Haar. Es dürfte nicht sehr schwierig sein, sich einen Bart wachsen zu lassen und in den Kleidern des Toten herumzulaufen. Er würde in das Leben des Einsiedlers schlüpfen und es für ihn weiterführen, sich so verhalten, als ob die Seele dieses Mannes jetzt in seinen Besitz übergegangen sei. Wenn jemand ihn da oben besuchen käme, würde er sich einfach für den anderen ausgeben - und dann sähe er ja, ob er damit durchkommen konnte. Falls etwas schiefginge, hatte er ein Gewehr, um sich zu verteidigen, doch rechnete er sich auf alle Fälle gute Chancen aus, da es unwahrscheinlich war, daß ein Einsiedler viel Besuch bekam.
Nachdem er den Fremden ausgezogen hatte, schleifte er die Leiche aus der Höhle und brachte sie auf die rückwärtige Seite des Hangs. Dort entdeckte er etwas sehr Bemerkenswertes: Gut zehn Meter unterhalb des Niveaus der Höhle befand sich eine kleine Oase, ein üppig bewachsenes Fleckchen mit zwei hohen Pappeln, einem Bach und unzähligen Büschen, deren Namen ihm nicht bekannt waren. Eine winzige Insel des Lebens inmitten dieser überwältigenden Unfruchtbarkeit. Als er den Einsiedler in dem weichen Boden am Bach begrub, erkannte er, daß ihm an diesem Ort alle Möglichkeiten offenstanden. Er hatte Essen und Wasser; er hatte eine Wohnstatt; er hatte eine neue Identität gefunden, ein neues und völlig unerwartetes Leben. Diese Wende im Lauf der Dinge überstieg beinahe seine Fassungskraft. Noch vor einer Stunde war er zum Sterben bereit gewesen. Und jetzt zitterte er vor Glück, konnte sich das Lachen nicht verkneifen, während er dem Toten eine Schaufel Erde nach der anderen aufs Gesicht warf.
Monate
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