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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ist nicht transportfähig. Dann lassen wir ihn hier, sagte Scoresby. Der ist sowieso erledigt, und ich laß mich hängen, wenn ich hier in diesem Scheißcanyon rumsitze und wer weiß wie lange darauf warte, daß er endlich die Luft anhält. Das führt zu nichts. Tun Sie, was Sie wollen, sagte ich, aber solange Byrne lebt, werde ich ihn nicht allein lassen. Scoresby grunzte. Sie reden wie ein Held in irgendeinem gottverdammten Buch, sagte er. Sie könnten eine ganze Woche hier festsitzen, bis er endlich abkratzt, und was hat das für einen Sinn? Ich bin für ihn verantwortlich, sagte ich. So sieht die Sache aus. Ich bin für ihn verantwortlich, und ich werde ihn nicht allein lassen.
    Bevor Scoresby ging, riß ich ein Blatt aus meinem Skizzenblock und schrieb einen Brief an meine Frau. Ich weiß nicht mehr, was ich da geschrieben habe. Aber bestimmt irgend etwas Melodramatisches. Dies ist wahrscheinlich das letzte Mal, daß du von mir hörst, ich glaube, so lauteten meine Worte. Scoresby sollte den Brief auf die Post gehen, wenn er in die Stadt kam. Jedenfalls hatten wir es so abgemacht, aber ich wußte, daß er nicht die Absicht hatte, sein Versprechen zu halten. Das würde ihn in mein Verschwinden verwickeln, und wieso sollte er das Risiko eingehen, sich von irgendwem Fragen stellen zu lassen? Viel besser war es für ihn, einfach wegzureiten und das Ganze zu vergessen. Wie sich herausstellte, kam es dann auch genauso. Zumindest nehme ich das an. Als ich viel später die Artikel und Nachrufe las, war darin von Scoresby nie die Rede - obwohl ich seinen Namen in dem Brief ausdrücklich erwähnt hatte.
    Er sprach auch davon, eine Suchmannschaft loszuschicken, falls ich binnen einer Woche nicht auftauchen sollte, aber ich wußte, auch das würde er nicht tun. Ich sagte es ihm ins Gesicht, aber anstatt es abzustreiten, zeigte er mir von neuem sein unverschämtes Grinsen. Ihre letzte Chance, Maler, sagte er, kommen Sie mit mir oder nicht? Zu wütend, um noch etwas sagen zu können, schüttelte ich nur den Kopf. Scoresby tippte sich zum Abschied an den Hut und begann den Hang wieder hochzuklettern, zurück zu seinem Pferd, um sich aus dem Staub zu machen. Einfach so, ohne ein weiteres Wort. Er brauchte einige Minuten, bis er oben war, und ich ließ ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen. Ich wollte nichts riskieren. Ich vermutete, er würde versuchen, mich umzubringen, bevor er losritt, das schien fast unausweichlich. Beweise vernichten, dafür sorgen, daß ich niemandem erzählen konnte, was er getan hatte - mitten im Nirgendwo einfach einen jungen Mann sterben zu lassen. Aber Scoresby drehte sich nicht ein einziges Mal um. Nicht etwa aus Freundlichkeit, das kann ich Ihnen versichern. Die einzig mögliche Erklärung dafür ist, daß er es nicht für notwendig hielt. Er brauchte mich nicht zu töten, weil er nicht glaubte, daß ich es allein zurück schaffen würde.
    Scoresby ritt weg. Und schon nach einer Stunde hatte ich das Gefühl, er hätte überhaupt nie existiert. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie seltsam dieses Gefühl war. Nicht daß ich mir vorgenommen hätte, nicht mehr an ihn zu denken; als ich es versuchte, konnte ich mich kaum noch an ihn erinnern. Wie er aussah, der Klang seiner Stimme, das alles war mir entfallen. Das macht die Stille, Fogg, die löscht alles aus. Scoresby war aus meinem Kopf gestrichen, und wann immer ich später an ihn zu denken versuchte, kam es mir vor, als versuchte ich mich an eine Traumgestalt zu erinnern, als hielte ich nach jemandem Ausschau, den es nie gegeben hatte.
    Es dauerte drei oder vier Tage, bis Byrne starb. Für mich war es wahrscheinlich eine Wohltat, daß es so lange dauerte. Es hielt mich auf Trab, so daß ich keine Zeit hatte, mich zu fürchten. Die Angst kam erst später, nachdem ich ihn begraben hatte und allein war. Am ersten Tag bin ich bestimmt zehnmal den Berg raufgestiegen, um Essen und Ausrüstung von dem Esel abzuladen und nach unten zu schleppen. Ich zerbrach meine Staffelei und benutzte das Holz, um Byrne den Arm und das Bein zu schienen. Aus einer Decke und einem Stativ errichtete ich einen kleinen Wetterschutz, damit die Sonne ihm nicht ins Gesicht schien. Ich versorgte das Pferd und den Esel. Ich riß Kleidungsstücke in Streifen und wechselte die Verbände. Ich machte Feuer, kochte das Essen, ich tat alles, was zu tun war. Meine Schuldgefühle ließen mich nicht ruhen, es war unmöglich, mir wegen des Geschehenen keine Vorwürfe zu machen, doch selbst

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