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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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meinte, wir sollten versuchen, so schnell wie möglich dorthin zu kommen, um unsere Vorräte aufzufrischen. Scoresby erwähnte eine Abkürzung, die uns einen oder zwei Tage ersparen würde, also brachen wir in dieser Richtung auf und zogen durch zerklüftetes Gelände der Sonne entgegen. Das Terrain war schwierig, unwegiger als alles, was wir zuvor ausprobiert hatten, und nach einer Weile dämmerte mir, daß Scoresby uns in eine Falle führte. Byrne und ich waren keine so guten Reiter wie er, wir wurden mit dem Gelände kaum fertig. Scoresby ritt voran, dann kam Byrne, und ich bildete die Nachhut. Mühsam erklommen wir etliche Steilhänge, um oben schließlich einem Grat zu folgen. Er war sehr schmal, übersät mit Felsbrocken und Kieseln, und das Licht gleißte auf dem Gestein, als ob es uns blenden wollte. Zurück konnten wir da schon nicht mehr, aber mir war auch nicht klar, wie wir weiterkommen sollten. Plötzlich geriet Byrnes Pferd aus dem Tritt. Er ritt höchstens drei Meter vor mir, und ich erinnere mich noch an das furchtbare Klappern von Steinen, das Wiehern seines Pferdes, als es mit den Hufen um Halt kämpfte. Aber der Boden gab immer weiter nach, und bevor ich zu reagieren vermochte, stieß Byrne einen Schrei aus, und dann kippte er mitsamt dem Pferd über den Rand, und beide stürzten den Hang hinunter. Es war verdammt tief, bestimmt fünfzig oder hundert Meter, von oben bis unten nichts als kantige Felsen. Ich sprang ab, schnappte mir den Arzneikasten und rannte den Hang hinunter, um zu sehen, was ich noch tun konnte. Zuerst hielt ich Byrne für tot, aber dann gelang es mir, seinen Puls zu ertasten. Doch abgesehen davon gab es herzlich wenig Aussicht auf Hoffnung. Sein Gesicht war blutüberströmt, sein linkes Bein und sein linker Arm waren gebrochen, das erkannte ich schon beim bloßen Hinsehen. Dann drehte ich ihn auf den Rücken und sah direkt unter seinen Rippen einen großen, klaffenden Riß - eine häßliche, pulsierende Wunde von mindestens fünfzehn bis siebzehn Zentimeter Länge. Es war schrecklich, der Junge war regelrecht zerschmettert. Ich wollte gerade den Arzneikasten öffnen, als ich hinter mir einen Schuß hörte. Ich fuhr herum und sah Scoresby mit einer rauchenden Pistole in der Rechten über Byrnes gestürztem Pferd stehen. Bein gebrochen, sagte er barsch, da bleibt nichts anderes übrig. Ich sagte ihm, Byrne sei in übler Verfassung, wir müßten uns sofort um ihn kümmern, doch als Scoresby herkam und ihn sich ansah, grinste er höhnisch und sagte: Mit dem da sollten wir unsere Zeit nicht vertrödeln. Das einzige, was dem noch hilft, ist eine Dosis von der Medizin, die ich eben dem Pferd verabreicht habe. Scoresby hob die Pistole und zielte auf Byrnes Kopf, aber ich schlug ihm den Arm zur Seite. Ich weiß nicht, ob er wirklich abdrücken wollte, aber das Risiko konnte ich nicht eingehen. Als ich ihm gegen den Arm schlug, sah Scoresby mich böse an und riet mir, ich solle ihn bloß nicht noch mal anfassen. Sicher, sagte ich, wenn Sie aufhören, mit Ihrer Pistole auf hilflose Leute zu zielen. Darauf wandte Scoresby sich um und zielte mit der Pistole auf mich. Ich ziele auf jeden, wie es mir paßt, sagte er, und dann lächelte er auf einmal, setzte ein breites idiotisches Grinsen auf, kostete die Macht aus, die er über mich besaß. Hilflos, wiederholte er. Genau das sind Sie, Sie Maler, ein hilfloses Knochengerüst. Ich dachte, jetzt erschießt er mich. Während ich so dastand und wartete, daß er abdrückte, fragte ich mich, wie lange es wohl dauern würde, bis ich stürbe, nachdem die Kugel in mein Herz eingedrungen wäre. Ich dachte: Das ist der letzte Gedanke meines Lebens. Es kam mir vor, als starrten wir uns eine Ewigkeit lang in die Augen, während ich wartete, daß er endlich abdrückte. Und dann fing Scoresby an zu lachen. Er war äußerst zufrieden mit sich, als hätte er soeben einen enormen Sieg errungen. Er steckte die Pistole in das Halfter zurück und spuckte auf den Boden. Es war, als hätte er mich bereits getötet, als sei ich bereits tot.
    Er ging zu dem Pferd zurück und fing an, Sattel und Satteltaschen loszumachen. Mir saß noch der Schreck von der Sache mit der Pistole in den Knochen, aber ich hockte mich neben Byrne und begann zu arbeiten, tat mein möglichstes, seine Wunden auszuwaschen und zu verbinden. Ein paar Minuten später kam Scoresby wieder und erklärte, er wolle jetzt los. Los? sagte ich, wovon reden Sie? Wir können den Jungen nicht mitnehmen, er

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