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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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vergingen. Anfangs war Effing von seinem Glück zu benommen, um seiner Umgebung viel Aufmerksamkeit schenken zu können. Er aß und schlief, und wenn die Sonne nicht zu kräftig schien, saß er auf den Steinen vor seiner Höhle und sah den glänzenden, buntschillernden Eidechsen zu, die zu seinen Füßen herumhuschten. Der Berg bot eine gewaltige Aussicht auf unermeßliche Weiten, aber er hatte selten einen Blick dafür übrig, beschränkte sich in seinem Denken bewußt auf die unmittelbare Umgebung: seine Gänge mit dem Wassereimer zum Bach, das Sammeln von Brennholz, das Innere seiner Höhle. Von der Landschaft hatte er die Nase voll, fürs erste konnte er sie gut entbehren. Dann aber verließ ihn diese stille Genügsamkeit ganz plötzlich, und er erlebte eine Phase schier unerträglicher Einsamkeit. Der Schrecken der vergangenen Monate verschlang ihn, und dann war er ein oder zwei Wochen gefährlich nahe daran, sich umzubringen. Wahnvorstellungen und Ängste bedrängten ihn, mehr als einmal bildete er sich ein, er sei bereits tot, er sei beim Betreten der Höhle gestorben und müsse jetzt als Gefangener eines dämonischen Lebens nach dem Tode dahinvegetieren. Eines Tages nahm er in einem Anfall von Wahnsinn das Gewehr des Einsiedlers und erschoß seinen Esel; er glaubte, das Tier habe sich in den Einsiedler verwandelt, in ein zorniges Gespenst, das zurückgekommen sei, um ihn mit seinem heimtückischen Geschrei zu quälen. Der Esel wisse die Wahrheit über ihn, und es bleibe ihm nichts anderes übrig, als diesen Zeugen seines Betrugs zu beseitigen. Danach hatte er die fixe Idee, er müsse die Identität des Toten herausfinden; systematisch durchwühlte er das Höhleninnere nach Hinweisen, suchte nach einem Tagebuch, einem Päckchen Briefe, dem Vorsatzblatt eines Buches, nach irgend etwas, das den Namen des Einsiedlers verraten könnte. Doch es fand sich nichts, nicht die kleinste Information.
    Nach zwei Wochen kam er langsam wieder zu sich, geriet schließlich in einen Zustand, den man Seelenfrieden nennen könnte. Ewig könne das ja nicht weitergehen, sagte er sich, und schon dieser Gedanke gewährte ihm Trost, gab ihm den Mut weiterzumachen. Irgendwann mußten die Nahrungsvorräte alle sein, und dann würde er woandershin gehen müssen. Er gab sich etwa ein Jahr, vielleicht etwas mehr, wenn er gut aufpaßte. Bis dahin würde man die Hoffnung, er und Byrne könnten doch noch auftauchen, aufgegeben haben. Er bezweifelte, daß Scoresby seinen Brief jemals abschicken würde, aber auch wenn er es tat, lief es im Grunde auf dasselbe hinaus. Man würde einen von Elizabeth und Byrnes Vater finanzierten Suchtrupp losschicken. Der Trupp würde ein paar Wochen lang durch die Wüste ziehen und gewissenhaft nach den Vermißten suchen - mit Sicherheit würde auch eine Belohnung ausgesetzt -, aber finden würden die Leute nichts. Allenfalls könnten sie Byrnes Grab entdecken, aber das war nicht sehr wahrscheinlich. Und selbst wenn sie es fänden, brächte sie das ihm keinen Schritt näher. Julian Barber war weg, und niemand würde ihn jemals aufspüren. Es kam nur darauf an, auszuhalten, bis man die Suche nach ihm aufgegeben hätte. In den New Yorker Zeitungen kämen die Nachrufe heraus, ein Gedenkgottesdienst würde abgehalten, und damit wäre die Sache erledigt. Wenn das erst einmal geschehen wäre, könnte er hingehen, wo immer er wollte, könnte er jede beliebige Identität annehmen.
    Gleichwohl war ihm bewußt, daß es nicht zu seinem Vorteil wäre, die Dinge zu überstürzen. Je länger er sich verborgen hielt, desto sicherer wäre er, wenn er schließlich aufbrach. Er fing daher an, sein Leben so streng wie möglich zu regeln, tat alles, was er konnte, um die Zeit seines Aufenthalts zu verlängern: Er beschränkte sich auf nur eine Mahlzeit am Tag, legte einen reichlichen Brennholzvorrat für den Winter an, hielt sich körperlich in Form. Er machte sich Tabellen und Zeitpläne, und jeden Abend vor dem Schlafengehen schrieb er penibel auf, was er im Lauf des Tages verbraucht hatte, wobei er sich dazu zwang, die strengste Disziplin zu wahren. Anfangs fiel es ihm schwer, die selbstgesteckten Ziele zu erreichen; oft erlag er der Versuchung, noch eine Scheibe Brot oder noch einen Teller Doseneintopf zu essen, aber schon sein Streben als solches schien ihm der Mühe wert und half ihm, wachsam zu sein. Er kämpfte damit gegen seine Schwächen an, und als dann Wirklichkeit und Ideal allmählich näher zusammenrückten, mußte

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