Mond über Manhattan
Durchschnitt kamen täglich zwanzig bis dreißig Seiten hinzu. Ich mußte sehr schnell schreiben, um mit ihm Schritt zu halten, und manchmal waren meine Mitschriften kaum noch lesbar. Einmal fragte ich ihn, ob wir nicht ein Tonbandgerät benutzen könnten, doch das lehnte Effing ab. Keine Elektrizität, sagte er, keine Apparate. «Ich hasse den Lärm dieser Höllenmaschinen. Dieses Brummen und Rauschen macht mich ganz krank. Ich will nichts anderes hören als die Geräusche, die Sie beim Schreiben machen.» Ich erklärte ihm, daß ich kein professioneller Sekretär sei. «Ich kann nicht stenographieren», sagte ich, «und manchmal habe ich Schwierigkeiten, meine eigene Schrift zu lesen.» - «Dann tippen Sie es ab, wenn ich nicht dabei bin», sagte er. «Ich werde Ihnen Pavels Schreibmaschine geben. Ein schönes altes Gerät, habe ich ihm gekauft, als wir neununddreißig nach Amerika kamen. Eine Underwood. So was wird heute nicht mehr gebaut. Das Ding wiegt bestimmt dreieinhalb Tonnen.» Noch am selben Abend zog ich sie aus den Tiefen des Wandschranks in meinem Zimmer hervor und stellte sie auf einen kleinen Beistelltisch. Von da an übertrug ich jeden Abend einige Stunden lang die Mitschriften unserer Sitzungen vom Vormittag. Eine langweilige Arbeit, aber Effings Worte waren mir noch frisch im Gedächtnis, so daß mir nicht viele davon verlorengingen.
Nach Byrnes Tod gab Effing die Hoffnung auf. Er machte einen halbherzigen Versuch, sich aus dem Canyon zu befreien, verirrte sich aber bald in dem Gewirr von Hindernissen: Klippen, Abgründe, unersteigbare Spitzkuppen. Am zweiten Tag brach sein Pferd zusammen, doch da er kein Brennholz finden konnte, war das Fleisch kaum zu verwenden. Das Wüstengras ließ sich nicht entzünden. Es qualmte und zischte, brannte aber nicht. Um seinen Hunger zu stillen, schabte Effing dünne Streifen Fleisch von dem Kadaver ab und versengte sie mit Streichhölzern. Das reichte für eine Mahlzeit, aber nachdem ihm die Streichhölzer ausgegangen waren, ließ er das Tier zurück, da er das Fleisch roh nicht essen wollte. Zu diesem Zeitpunkt war er davon überzeugt, daß es mit seinem Leben vorbei sei. Den letzten überlebenden Esel führend, tappte er weiter zwischen den Felsen umher, doch bei jedem Schritt peinigte ihn der Gedanke, daß er sich immer weiter von einer möglichen Rettung entfernte. Seine Malutensilien waren unversehrt, und er hatte noch ausreichend Essen und Wasser für zwei Tage. Es schien keine Rolle mehr zu spielen. Selbst wenn es ihm gelänge, das Ganze zu überleben, wäre alles aus, dachte er. Dafür hatte Byrnes Tod gesorgt; er würde sich niemals dazu überwinden können, wieder nach Hause zu gehen. Die Schande wäre zuviel für ihn: die Fragen, die Beschuldigungen, der Gesichtsverlust. Es wäre viel besser, wenn sie auch ihn für tot halten würden, denn dann bliebe wenigstens seine Ehre intakt, und niemand würde erfahren, wie schwach und verantwortungslos er gewesen war. Das war der Augenblick, in dem Julian Barber ausgelöscht wurde: eingeschlossen von Felsen und glühendem Licht, löste er sich dort draußen in der Wüste einfach auf. Damals kam ihm dieser Entschluß gar nicht so drastisch vor. Es war ja keine Frage, daß er sterben würde, und selbst wenn er es überlebte, wäre er so gut wie tot. Kein Mensch würde einen Schimmer haben, was ihm zugestoßen war.
Effing erzählte mir, daß er verrückt geworden sei, aber ich war mir nicht sicher, inwieweit ich das wörtlich nehmen sollte. Nach Byrnes Tod habe er drei Tage lang fast ununterbrochen geschrien, sagte er, habe sich das Gesicht mit dem Blut aus seinen an den Felsen zerschundenen Händen beschmiert, doch angesichts der Umstände schien mir dieses Verhalten nicht ungewöhnlich. Ich hatte während des Gewitters im Central Park auch nicht schlecht herumgebrüllt, und meine Lage war längst nicht so hoffnungslos gewesen wie seine. Es ist doch ganz natürlich, daß man schreien möchte, wenn man sich in einer ausweglosen Klemme glaubt. Die Luft staut sich in den Lungen, und man kann erst wieder atmen, wenn man sie ausstößt, wenn man sie mit aller Kraft herausbrüllt. Andernfalls erstickt man an seinem eigenen Atem, drückt einem der Himmel die Luft ab.
Am Morgen des vierten Tages - er hatte nichts mehr zu essen, in seiner Feldflasche war kaum noch eine Tasse Wasser - entdeckte Effing am oberen Rand eines nahe gelegenen Steilhangs etwas, das wie ein Höhleneingang aussah. Das wäre ein guter Platz zum
Weitere Kostenlose Bücher