Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
er das schlicht als persönlichen Triumph empfinden. Er wußte, das Ganze war nur ein Spiel, doch war dazu eine fanatische Hingabe erforderlich, und eben diese unmäßige Konzentration hielt ihn davon ab, den Mut sinken zu lassen.
    Nach zwei oder drei Wochen dieses neuen, disziplinierten Lebens begann er wieder den Drang zum Malen zu spüren. Eines Abends, als er mit einem Bleistift in der Hand seinen kurzen Bericht über die Aktivitäten des Tages niederschrieb, fing er plötzlich an, auf der gegenüberliegenden Seite einen Berg zu skizzieren. Noch ehe ihm überhaupt klar war, was er da tat, war die Zeichnung fertig. Er hatte keine halbe Minute dafür gebraucht, aber in dieser unvermittelten, unbewußten Geste entdeckte er eine Kraft, die allen seinen früheren Arbeiten gefehlt hatte. Noch am selben Abend packte er seine Malutensilien aus, und von da an malte er, bis ihm schließlich die Farben ausgingen; täglich verließ er im Morgengrauen die Höhle und verbrachte dann den ganzen Tag im Freien. Das währte zweieinhalb Monate, und in dieser Zeit gelang es ihm, fast vierzig Gemälde zu vollenden. Dies war, wie er mir erzählte, fraglos die glücklichste Zeit seines Lebens.
    Er arbeitete unter einer zweifachen Beschränkung, und jede davon erwies sich am Ende auf ihre Weise als hilfreich. Zunächst einmal stand fest, daß niemand je diese Bilder sehen würde. Das war unumstößlich, quälte Effing jedoch keineswegs mit dem Gefühl der Vergeblichkeit, sondern schien ihn richtiggehend zu befreien. Er arbeitete jetzt für sich selbst, die Bedrohung durch die Meinung anderer Leute war von ihm genommen, und das allein ließ ihn ganz anders an seine Kunst herangehen. Zum erstenmal in seinem Leben machte er sich um das Ergebnis keine Sorgen mehr, so daß ihm die Begriffe «Erfolg» und «Versagen» plötzlich gar nichts mehr bedeuteten. Der wahre Zweck der Kunst bestand nicht darin, schöne Dinge zu erschaffen, sondern, wie er herausfand, im Begreifen, im Durchdringen der Welt und darin, seinen Platz in ihr zu finden; und die etwaigen ästhetischen Qualitäten eines Gemäldes waren praktisch nur ein zufälliges Nebenprodukt des Strebens, sich an diesem Kampf zu beteiligen, sich in das Chaos der Dinge zu stürzen. Er brach mit den erlernten Regeln, vertraute auf die Landschaft als gleichwertigen Partner, überließ seine Absichten freiwillig den Attacken des Zufalls, der Spontaneität, dem aufdringlichen Ansturm der Details. Er hatte keine Angst mehr vor der Leere, die ihn umgab. Durch den Versuch, sie auf die Leinwand zu bringen, hatte er sie irgendwie verinnerlicht, und jetzt konnte er ihre Gleichgültigkeit als etwas empfinden, das genauso zu ihm gehörte, wie er zu der stillen Macht dieser gigantischen Räume gehörte. Die Bilder, die er dort malte, waren kantig, wie er sich ausdrückte, voll greller Farben und seltsamer, ungeplanter Energieausbrüche, Wirbel von Formen und Licht. Er hatte keine Vorstellung davon, ob sie häßlich oder schön waren, aber das war wohl auch nebensächlich. Es waren seine Bilder, und sie hatten nichts gemein mit all den anderen, die er früher gesehen hatte. Noch fünfzig Jahre danach, sagte er, könne er sich an jedes einzelne davon erinnern.
    Die zweite Beschränkung war subtiler, beeinflußte ihn aber gleichwohl noch stärker: Irgendwann mußte ihm das Material ausgehen. Er hatte ja nur eine begrenzte Menge an Farbtuben und Leinwänden, und solange er weiterarbeitete, gingen sie unausweichlich zur Neige. Vom ersten Moment an war daher schon das Ende in Sicht. Während er seine Bilder malte, hatte er das Gefühl, die Landschaft schwände unter seinen Blicken dahin. Dadurch war alles, was er in diesen Monaten tat, von besonderer Wehmut erfüllt. Mit jedem fertigen Gemälde schrumpfte seine Zukunft ein Stück zusammen, rückte der Augenblick näher, an dem es keine Zukunft mehr geben würde. Nach anderthalb Monaten ununterbrochener Arbeit kam er schließlich zur letzten Leinwand. Allerdings waren noch über ein Dutzend Farbtuben übrig. Kaum aus dem Rhythmus kommend, drehte Effing die Bilder um und begann auf der Rückseite der Leinwände eine neue Serie. Dies gewährte ihm eine außerordentliche Gnadenfrist, wie er sagte, und in den nächsten drei Wochen fühlte er sich wie neugeboren. An diesem zweiten Zyklus von Landschaften arbeitete er mit noch größerem Eifer als an dem ersten, und als schließlich alle Rückseiten voll waren, bemalte er die Möbel in «einer Höhle, bepinselte

Weitere Kostenlose Bücher