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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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noch immer gegen ihn. Wenn er sich in der Höhle verbarrikadierte, den Eingang mit Steinen und Ästen versperrte, könnte er etwas mehr Zeit gewinnen, würde aber gleichzeitig das einzige aufgeben, was er seinen Angreifern voraus hatte; die Tatsache nämlich, daß sie von seinem Dasein nichts wußten. Sobald sie die Barrikade sähen, würde ihnen klarwerden, daß jemand in der Höhle wohnte, und dann würden sie entsprechend reagieren. Von früh bis spät dachte Effing über diese Schwierigkeiten nach, erwog die verschiedenen Strategien, die ihm zur Verfügung standen, versuchte einen Plan zu entwickeln, der nicht einem Selbstmord gleichkäme. Am Ende gab er es völlig auf, in der Höhle zu schlafen, und brachte seine Decken und Kissen auf einen Vorsprung auf der anderen Seite des Hangs. George Ugly Mouth hatte von der Vorliebe der Gresham-Brüder für Whiskey gesprochen, und Effing stellte sich vor, daß es für solche Leute nur natürlich wäre, wenn sie, gleich nachdem sie sich in der Höhle niedergelassen hätten, mit dem Trinken anfingen. Das Leben da draußen in der Wüste mußte langweilig sein, und falls sie sich wirklich betrinken sollten, wäre der Alkohol sein zuverlässigster Verbündeter. Er tat sein Bestes, sämtliche Spuren seiner Anwesenheit in der Höhle zu beseitigen, verstaute seine Bilder und Notizbücher im Dunkel des rückwärtigen Teils und machte auch von dem Ofen keinen Gebrauch mehr. Die Bilder an den Möbeln und an der Wand ließen sich freilich nicht entfernen, aber wenn der Ofen bei ihrem Kommen nicht warm wäre, könnten die Greshams immerhin den Schluß ziehen, daß derjenige, der die Bilder gemalt hatte, nicht mehr da sei. Es war natürlich keineswegs sicher, daß sie das denken würden, doch Effing sah keinen anderen Ausweg aus dieser Verlegenheit. Sie mußten merken, daß jemand dort gewesen war, denn wenn die Höhle aussähe, als ob sie seit ihrem letzten Besuch im Sommer leergestanden hätte, gäbe es keine Erklärung für das Verschwinden der Leiche des Einsiedlers. Die Greshams würden das merkwürdig finden, aber wenn sie erkannt hätten, daß jemand anders die Höhle bewohnt hatte, würden sie es vielleicht nicht mehr seltsam finden. Zumindest hoffte Effing das. Angesichts der unzähligen Unwägbarkeiten seiner Situation gab er sich allerdings keinen allzu großen Hoffnungen hin.
    Er durchlebte einen weiteren Monat in Höllenqualen, und dann kamen sie endlich. Es war Mitte Mai und etwas über ein Jahr her, daß er mit Byrne in New York aufgebrochen war. Die Greshams kamen in der Abenddämmerung herangeritten, verkündeten ihre Gegenwart mit großem Lärm, der von den Felsen widerhallte: laute Stimmen, Gelächter, ein paar Takte rauhen Gesangs. Effing hatte ausreichend Zeit, sich auf sie vorzubereiten, was sein Herz aber nicht davon abhielt, wie rasend zu schlagen. Vergebens hatte er sich ermahnt, ruhig zu bleiben, denn jetzt wurde ihm klar, daß er in dieser Nacht endgültig Schluß damit machen mußte. Die Situation war unmöglich noch länger auszuhalten.
    Er kauerte auf dem schmalen Vorsprung hinter der Höhle, und während die Dunkelheit um ihn zunahm, wartete er auf seine Chance. Er hörte die Greshams herankommen, vernahm ein paar einzelne Bemerkungen, ohne sie aber zu verstehen, und dann hörte er einen von ihnen sagen: «Ich schätze, wir werden da drin erst mal lüften müssen, wenn wir den alten Tom weggeschafft haben.» Die beiden anderen lachten, und gleich darauf brachen die Stimmen ab. Eine halbe Stunde später kam Rauch aus dem Blechrohr, das oben aus der Höhlendecke ragte, und dann bemerkte er den Geruch von siedendem Fleisch. In den folgenden zwei Stunden passierte nichts. Er hörte, wie die Pferde schnaubten und mit den Hufen auf dem Stück Erde vor der Höhle stampften, und nach und nach wurde der dunkelblaue Abend schwarz. Der Mond schien nicht in dieser Nacht, der Himmel strahlte im Licht der Sterne. Gelegentlich vernahm er den gedämpften Nachhall eines Lachens, aber das war auch schon alles. Dann begannen die Greshams einer nach dem anderen und in regelmäßigen Abständen aus der Höhle zu kommen und an die Felsen zu pinkeln. Effing hoffte, dies bedeutete, daß sie drinnen Karten spielten und sich betranken, aber er konnte sich unmöglich sicher sein. Er beschloß zu warten, bis der letzte seine Blase geleert haben würde, und danach noch einmal eine oder anderthalb Stunden verstreichen zu lassen. Dann wären sie vermutlich eingeschlafen, und niemand

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