Mond über Manhattan
hatte. Als der Mann sich auf die obere Kante zog, grunzte er vor Erschöpfung, dann stand er auf und lächelte Effing an. Er war nur drei oder vier Meter entfernt. Effing hob sein Gewehr und legte auf ihn an, aber der Mann schien eher Verwirrung als Angst zu empfinden.
«Hey, Tom», sagte er mit der langsamen Stimme eines Schwachsinnigen. «Erinnerst du dich nicht mehr an mich? Ich bin’s, dein alter Freund George. Mit mir brauchst du keine Mätzchen zu machen.»
Effing zögerte einen Augenblick, dann ließ er das Gewehr sinken, hielt aber vorsichtshalber den Finger noch am Abzug. «George», murmelte er fast unhörbar, damit seine Stimme ihn nicht verriete.
«Ich war den ganzen Winter eingesperrt», sagte der große Mann. «Deswegen konnte ich dich nicht besuchen.» Er ging weiter auf Effing zu und blieb erst stehen, als er nah genug war, ihm die Hand geben zu können. Effing nahm das Gewehr in die Linke und streckte grüßend die Rechte aus. Der Indianer sah ihm forschend in die Augen, aber dann war die Gefahr plötzlich vorbei. «Du siehst gut aus, Tom», sagte er. «Richtig gut.»
«Danke», sagte Effing. «Du siehst auch gut aus.»
Von einfältiger Freude ergriffen, brach der große Mann in Gelächter aus, und in diesem Augenblick war Effing sicher, daß er damit durchkommen würde. Es war, als hätte er soeben den komischsten Witz des Jahrhunderts erzählt, und wenn so wenig so viel bewirken konnte, dürfte es nicht schwer werden, die Täuschung aufrechtzuerhalten. Es war schon erstaunlich, wie glatt das alles ging. Effing ähnelte dem Einsiedler ja allenfalls nur annähernd, aber die Macht der Suggestion war groß genug, den äußeren Augenschein zurechtzubiegen. Der Indianer war in der Erwartung, den Einsiedler Tom zu finden, zu der Höhle gekommen, und da er sich nicht vorstellen konnte, daß ein Mann, der auf den Namen Tom hörte, irgend jemand anders sein könnte als der Tom, nach dem er suchte, hatte er die Tatsachen eilig seinen Erwartungen angepaßt und erklärte sich jegliche Diskrepanzen zwischen den beiden Toms als Produkt seines schlecht funktionierenden Gedächtnisses. Natürlich schadete es nichts, daß der Mann ein Einfaltspinsel war. Womöglich war ihm längst klar, daß Effing nicht der echte Tom war. Er war zu der Höhle raufgeklettert, um ein paar Stunden in Gesellschaft zu verbringen, und da er die hier vorfand, fragte er gar nicht erst danach, wer sie ihm bot.
Am Ende war es ihm wahrscheinlich vollkommen gleichgültig, ob er mit dem echten oder einem unechten Tom gesprochen hatte.
Den ganzen Nachmittag saßen sie zusammen in der Höhle und rauchten Zigaretten. George hatte einen Beutel Tabak mitgebracht, sein übliches Geschenk für den Einsiedler, und Effing rauchte vergnügt und wie im Rausch eine nach der anderen. Es war ein sonderbares Gefühl, nach so vielen Monaten der Isolation mit jemandem zusammenzusein, und in der ersten Stunde hatte er Schwierigkeiten, überhaupt ein Wort herauszubringen. Er hatte das Sprechen verlernt, seine Zunge arbeitete nicht mehr so wie früher. Sie fühlte sich unbeholfen an, wie eine zuckende, hin und her peitschende Schlange, die seinen Befehlen nicht mehr gehorchte. Zum Glück war der ursprüngliche Tom kein sonderlicher Redner gewesen, und der Indianer schien mehr als eine gelegentliche Antwort gar nicht von ihm zu erwarten. George amüsierte sich offensichtlich prächtig, nach jeweils drei oder vier Sätzen warf er den Kopf zurück und lachte. Jedesmal, wenn er lachte, verlor er den Faden und fing mit einem anderen Thema an, so daß Effing seinem Gerede nur mit Mühe folgen konnte. Eine Erzählung aus einem Navajo-Reservat wurde unvermittelt zur Schilderung einer Salonschlägerei unter Betrunkenen, die wiederum in einen aufgeregten Bericht von einem Zugraub überging. Soweit Effing daraus schlau wurde, führte sein Gesellschafter den Namen George Ugly Mouth. So wurde er jedenfalls von den Leuten genannt, aber das schien dem großen Mann nichts auszumachen.
Im Gegenteil, er schien einigen Gefallen daran zu finden, daß die Welt ihn mit einem Namen beehrt hatte, der ihm und niemand anderem gehörte, so als wäre dies eine besondere Auszeichnung. Effing hatte noch nie jemanden kennengelernt, in dem sich eine solche Liebenswürdigkeit mit einer solchen Beschränktheit paarte, und er tat sein Bestes, ihm sorgfältig zuzuhören und an den richtigen Stellen zu nicken. Ein paarmal war er versucht, George zu fragen, ob er irgend etwas von einer
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