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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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er los und versuchte sich vorzustellen, was er als nächstes tun sollte.
    Bis dahin brauchten wir über zwei Wochen. Weihnachten war längst vorbei, eine Woche danach war das Jahrzehnt zu Ende gegangen. Allerdings schenkte Effing diesen Einschnitten nur wenig Bedeutung. Er war in Gedanken mit einer früheren Zeit befaßt, und er wühlte mit unermüdlicher Sorgfalt seine Geschichte auf, ließ nichts aus, wandte sich zurück, um geringfügige Einzelheiten nachzutragen, verweilte bei den kleinsten Nuancen, um seine Vergangenheit lebendig werden zu lassen. Nach einer Weile hörte ich auf, mich zu fragen, ob er mir die Wahrheit erzählte oder nicht. Sein Bericht hatte inzwischen etwas Traumhaftes an sich, und manchmal schien er sich gar nicht so sehr an die äußerlichen Tatsachen seines Lebens zu erinnern, sondern sich vielmehr ein Gleichnis zur Erklärung ihrer inneren Bedeutung zurechtzulegen. Die Höhle des Einsiedlers, die Satteltaschen voller Geld, die Wildwest-Schießerei - das war alles so weit hergeholt, und doch war gerade die Ungeheuerlichkeit dieser Geschichte wahrscheinlich das Überzeugendste daran. Es schien undenkbar, daß jemand sie erfunden haben könnte, und Effing erzählte sie so gut und mit so offenkundiger Aufrichtigkeit, daß ich mich ohne weiteres darauf einließ und mich weigerte, ihren Wahrheitsgehalt anzuzweifeln. Ich hörte zu, ich schrieb auf, was er sagte, ich unterbrach ihn nicht. Obwohl mir zuweilen vor ihm graute, konnte ich nicht umhin, ihn für einen Gleichgesinnten zu halten. Das fing vermutlich an, als wir zu der Episode mit der Höhle kamen. Schließlich hatte auch ich Erinnerungen an ein Höhlenleben, und als er mir die Einsamkeit beschrieb, die er dort empfunden hatte, kam es mir vor, als beschriebe er meine eigenen Gefühle.
    Meine Geschichte war nicht minder grotesk als Effings, aber ich wußte, er würde mir jedes Wort glauben, falls ich mich je entschließen sollte, sie ihm zu erzählen.
    Die Tage vergingen, und die Stimmung im Haus wurde immer klaustrophobischer. Das Wetter draußen war widerlich - gefrierender Regen, vereiste Straßen, Stürme, die einen glatt durchpusteten -, und wir mußten unsere Nachmittagsspaziergänge vorläufig aussetzen. Nun verdoppelte Effing die Länge der Nachruf-Sitzungen; nach dem Essen zog er sich zu einem kurzen Mittagsschlaf in sein Zimmer zurück, und gegen halb drei oder drei kam er wieder herausgestürmt, um ein paar weitere Stunden lang mit seiner Erzählung fortzufahren. Ich weiß nicht, woher er die Kraft nahm, in einem solchen Tempo weiterzumachen, aber abgesehen davon, daß er zwischen den Sätzen etwas längere Pausen einlegte als gewöhnlich, schien seine Stimme ihn nie im Stich zu lassen. Ich begann in dieser Stimme zu leben wie in einem Zimmer, einem fensterlosen Zimmer, das mit jedem weiteren Tag kleiner wurde. Effing trug jetzt fast immer seine schwarzen Augenklappen, und so kam ich erst gar nicht dazu, mir einzubilden, es bestünde irgendeine Verbindung zwischen uns. Er war mit der Geschichte in seinem Kopf allein, und ich war allein mit den Worten, die seinem Mund entströmten. Diese Worte erfüllten die Luft um mich herum, bis ich am Ende kaum noch etwas zum Atmen hatte. Ohne Kitty wäre ich wahrscheinlich erstickt. Nach der Arbeit mit Effing gelang es mir meist, sie ein paar Stunden lang zu sehen und die Nacht bei ihr zu verbringen. Mehr als einmal kehrte ich erst am nächsten Morgen zurück. Mrs. Hume wußte, was ich im Schilde führte, aber falls Effing irgend etwas von meinem Kommen und Gehen ahnte, ließ er jedenfalls nichts davon verlauten. Für ihn zählte allein, daß ich jeden Morgen um acht Uhr am Frühstückstisch erschien, und das schaffte ich immer rechtzeitig.
    Nach dem Verlassen der Höhle zog Effing, wie er erzählte, mehrere Tage lang durch die Wüste, bis er die Ortschaft Bluff fand. Von da an wurde es leichter für ihn. Langsam in Richtung Norden von einem Ort zum anderen ziehend, kam er Ende Juni nach Salt Lake City zurück, wo er sich eine Bahnfahrkarte nach San Francisco kaufte. In Kalifornien erfand er dann seinen neuen Namen; als er sich am Abend seiner Ankunft im Hotel eintrug, machte er sich zu Thomas Effing. Thomas sollte an Moran erinnern, sagte er, doch erst als er den Stift weglegte, fiel ihm auf, daß auch der Einsiedler Tom geheißen hatte, er also den Namen verwandte, den er über ein Jahr lang heimlich getragen hatte. Er nahm diesen Zufall als gutes Omen, als sei seine Entscheidung damit

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