Mond über Manhattan
verzweifelt den Schrank, den Tisch und die hölzernen Stühle, und als auch alle diese Flächen mit Farbe bedeckt waren, quetschte er die letzten Reste aus den verschrumpelten Tuben und begann an der Südwand mit den Skizzen zu einem großen Höhlenpanorama. Es wäre ein Meisterwerk geworden, sagte Effing, aber er war kaum zur Hälfte damit fertig, als ihm die Farben endgültig austrockneten.
Dann kam der Winter. Er hatte noch mehrere Notizbücher und eine Schachtel Bleistifte, doch anstatt vom Malen aufs Zeichnen umzusteigen, hockte er sich in diesen kalten Monaten hin und verbrachte seine Zeit mit Schreiben. In eines der Notizbücher trug er seine Gedanken und Beobachtungen ein, versuchte mit Worten das zu tun, was er vorher mit Bildern getan hatte; in einem anderen setzte er die genaue Buchhaltung über seine alltäglichen Verrichtungen und seinen Verbrauch fort: wieviel er gegessen hatte, wieviel Essen noch übrig war, wie viele Kerzen er verbraucht hatte, wie viele Kerzen noch unangerührt waren. Im Januar schneite es eine Woche lang jeden Tag, und er hatte Spaß daran, zuzusehen, wie das Weiß sich auf die roten Felsen senkte und die ihm so vertraut gewordene Landschaft verwandelte. Nachmittags kam immer die Sonne heraus und schmolz den Schnee zu unregelmäßigen Flecken, so daß ein schön gesprenkeltes Gesamtbild entstand, und wenn dann Wind aufkam, wehte er die weißen Körnchen in die Luft und ließ sie in kurzen stürmischen Tänzen herumwirbeln. Effing konnte all dem stundenlang zusehen, schien dieses Anblicks nie müde zu werden. Sein Leben hatte sich dermaßen verlangsamt, daß ihm jetzt die kleinsten Veränderungen auffielen. Nachdem ihm die Farben ausgegangen waren, hatten ihn eine Zeitlang Entzugserscheinungen gepeinigt, doch dann hatte er entdeckt, daß das Schreiben als hinreichender Ersatz für das Malen dienen konnte. Mitte Februar jedoch hatte er alle seine Notizbücher gefüllt, war ihm keine einzige Seite mehr zum Schreiben geblieben. Wider Erwarten dämpfte dies seine Laune nicht. Inzwischen war er so tief in seiner Einsamkeit versunken, daß er keinerlei Ablenkung mehr nötig hatte. Er fand es beinahe unvorstellbar, aber nach und nach war es dahin gekommen, daß er sich mit der Welt zufriedengeben konnte.
Ende März kam dann sein erster Besucher. Wie der Zufall es wollte, saß Effing gerade auf dem Dach seiner Höhle, als der Fremde unten am Fuß des Steilhangs auftauchte; so konnte er den Aufstieg des Mannes über die Felsen verfolgen und fast eine Stunde lang beobachten, wie die kleine Gestalt auf ihn zukam. Als der Mann oben war, erwartete Effing ihn mit dem Gewehr im Anschlag. Hundertmal hatte er diese Szene durchgespielt, doch als sie jetzt Wirklichkeit wurde, erkannte er mit Schrecken, was für eine Angst er hatte. Die Situation würde sich nach höchstens dreißig Sekunden geklärt haben: ob der Mann den Einsiedler kannte oder nicht, und falls ja, ob er sich von der Verkleidung täuschen lassen und Effing für denjenigen halten würde, der zu sein er vorgab. Handelte es sich bei dem Mann zufällig um den Mörder des Einsiedlers, dann kam der Frage der Verkleidung keine Bedeutung zu. Das gleiche galt, wenn er ein Mitglied der Suchmannschaft war, eine letzte unbedarfte Seele, die noch immer von der Belohnung träumte. All das würde sich binnen weniger Sekunden klären, doch bis dahin mußte Effing auf das Schlimmste gefaßt sein. Ihm wurde klar, daß er dem Register seiner Sünden womöglich gleich einen Mord hinzufügen würde.
Als erstes fiel ihm die Größe des Mannes auf, und gleich darauf, wie seltsam er angezogen war. Seine Kleidung war offenbar aus einer Vielzahl von Flicken zusammengesetzt - ein hellrotes Quadrat hier, ein blauweiß kariertes Rechteck da, hier ein Stück Wolle, dort ein Stück Drillich -, und dieses Kostüm verlieh ihm ein merkwürdig clowneskes Aussehen, als wäre er gerade von irgendeinem Wanderzirkus abgesprungen. An Stelle eines breitrandigen Westernhutes trug er eine zerknautschte Melone mit einer weißen Feder im Band. Sein glattes schwarzes Haar hing ihm bis auf die Schultern, und als er noch näher kam, sah Effing, daß seine linke Gesichtshälfte entstellt war, zerklüftet von einer breiten schartigen Narbe, die sich von der Wange bis zur Unterlippe erstreckte. Effing hielt den Mann für einen Indianer, aber das spielte in diesem Augenblick kaum eine Rolle. Er war eine Erscheinung, ein alptraumhafter Hanswurst, der sich aus den Felsen materialisiert
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