Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Suchmannschaft gehört habe, doch gelang es ihm jedesmal, diesen Reiz zu unterdrücken.
    Im weiteren Verlauf des Nachmittags vermochte Effing dann doch noch einige Fakten über den echten Tom zusammenzufügen. George Ugly Mouths planlose und halbgare Erzählungen wanden sich allmählich mit einer gewissen Regelmäßigkeit ineinander zurück und bildeten dabei so viele Schnittpunkte, daß das Ganze die Struktur eines umfassenderen, einheitlicheren Berichts bekam. Episoden wiederholten sich, entscheidende Passagen wurden übergangen, Ereignisse vom Anfang wurden erst am Schluß erzählt, doch am Ende wußte Effing genug, um daraus schließen zu können, daß der Einsiedler mit irgendwelchen kriminellen Aktivitäten einer Gruppe von Banditen zu tun gehabt hatte, die als die Gresham- Brüder bekannt waren. Er kam zwar nicht dahinter, ob der Einsiedler ein aktiver Teilnehmer gewesen war oder ob er der Bande lediglich erlaubt hatte, die Höhle als Versteck zu benutzen; aber wie auch immer, seine Ermordung schien damit erklärt, ganz zu schweigen von den reichlichen Essensvorräten, die er dort am ersten Tag gefunden hatte. Da Effing fürchtete, seine Unkenntnis zu verraten, fragte er George nicht nach Einzelheiten, aber aus den Reden des Indianers war mit einiger Sicherheit zu schließen, daß die Greshams demnächst, vielleicht schon am Ende des Frühlings, zurückkommen würden. George war freilich zu zerstreut, um zu wissen, wo sich die Bande gegenwärtig aufhielt, und immer wieder sprang er von seinem Stuhl, ging durch den Raum und betrachtete mit bewunderndem Kopfschütteln die Bilder. Er habe gar nicht gewußt, daß Tom malen könne, sagte er; eine Bemerkung, die er im Lauf des Nachmittags einige dutzendmal wiederholte. Das sei das Schönste, was er je gesehen habe, das Schönste auf der ganzen Welt.
    Wenn er sich gut aufführte, sagte er, könne Tom ihm eines Tages vielleicht beibringen, wie man das machte; und Effing sah ihm in die Augen und sagte, ja, das werde er vielleicht eines Tages tun. Effing bedauerte, daß jemand die Bilder gesehen hatte, gleichzeitig aber freute ihn die begeisterte Reaktion, die sie auslösten, zumal dies, wie er erkannte, wahrscheinlich das einzige Mal war, daß diese Bilder überhaupt eine Reaktion auslösen würden.
    Nach George Ugly Mouths Besuch konnte Effing nicht mehr so leben wie vorher. In den vergangenen sieben Monaten hatte er sich unverwandt damit beschäftigt, allein zu sein, hatte sich bemüht, seine Einsamkeit zu etwas Wesentlichem auszubauen, zu einer vollkommenen Festung, von der aus er die Grenzen seines Lebens abstecken wollte, aber nachdem nun jemand bei ihm in der Höhle gewesen war, ging ihm auf, wie künstlich seine Situation eigentlich war. Es gab Leute, die seinen Aufenthaltsort kannten, und nachdem man ihn einmal besucht hatte, war nicht davon auszugehen, daß man es nicht wieder tun würde. Er mußte vorsichtig sein, mußte ständig vor Eindringlingen auf der Hut sein, und diese Wachsamkeit verlangte ihren Tribut, zermürbte ihn, bis von der Harmonie seiner Welt nichts mehr übrig war. Er konnte nichts dagegen machen. Beobachten und Warten war der Inhalt seiner Tage, er mußte sich vorbereiten auf das, was geschehen würde. Zunächst ging er davon aus, daß George noch einmal zurückkommen würde, doch als die Wochen vergingen und der große Mann nicht wiederauftauchte, begann er seine Aufmerksamkeit den Gresham-Brüdern zuzuwenden. Es wäre logisch gewesen, den Aufenthalt zu diesem Zeitpunkt abzubrechen, seine Sachen zu packen und die Höhle für immer zu verlassen, aber irgend etwas in ihm weigerte sich, der Bedrohung so leicht nachzugeben. Er wußte, es war Wahnsinn, nicht wegzugehen, eine sinnlose Geste, die ihn mit ziemlicher Sicherheit das Leben kosten würde, aber die Höhle war das einzige, worum er jetzt noch zu kämpfen hatte, und er brachte es einfach nicht über sich, sie zu verlassen.
    Alles kam darauf an, daß er sich nicht von ihnen überraschen ließ. Wenn sie ihn im Schlaf überrumpelten, hätte er keine Chance; sie würden ihn töten, noch ehe er aus dem Bett gekommen wäre. Das hatten sie bereits einmal getan, und sie würden es ohne weiteres ein zweites Mal tun. Andererseits, wenn er irgendeine Alarmvorrichtung aufbaute, die ihn von ihrem Kommen unterrichten würde, gewänne er allenfalls einige Minuten Vorsprung. Genug Zeit vielleicht, aufzuwachen und das Gewehr zu packen, aber wenn alle drei Brüder auf einmal kämen, stünden die Chancen

Weitere Kostenlose Bücher