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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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würde ihn hören, wenn er die Höhle betrat. Unterdessen überlegte er, wie er das Gewehr mit einer Hand bedienen sollte. Wenn in der Höhle kein Licht mehr wäre, würde er, um seine Ziele zu sehen, eine Kerze mitnehmen müssen, und das Schießen mit einer Hand hatte er nie geübt. Es war ein Winchester-Repetiergewehr, das nach jedem Schuß neu gespannt werden mußte, und dazu hatte er immer seine linke Hand gebraucht. Natürlich konnte er sich die Kerze in den Mund stecken, doch wäre es riskant, die Flamme so dicht vor den Augen zu haben, ganz zu schweigen davon, was ihm blühte, wenn die Flamme mit seinem Bart in Berührung käme. Er würde die Kerze wie eine Zigarre halten müssen, entschied er, sie zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand klemmen und hoffen, daß er mit den anderen drei Fingern gleichzeitig irgendwie den Lauf halten könnte. Wenn er den Kolben des Gewehrs an seinen Bauch und nicht an seine Schulter stemmte, wäre er vielleicht in der Lage, den Hahn nach dem Abdrücken schnell genug mit der rechten Hand zu spannen. Aber auch hier konnte er sich nicht sicher sein. All das waren verzweifelte Überlegungen in letzter Minute, und während er dort in der Dunkelheit saß und wartete, verfluchte er seine Nachlässigkeit und staunte über das Ausmaß seiner Dummheit. Wie sich dann herausstellte, war das Licht kein Problem. Als er aus seinem Versteck kroch und zum Eingang der Höhle schlich, sah er drinnen noch eine Kerze brennen. Mit angehaltenem Atem blieb er neben dem Eingang stehen und horchte auf irgendwelche Geräusche, bereit, zu Meinem Vorsprung zurückzueilen, falls die Greshams noch nicht schliefen. Nach einigen Augenblicken vernahm er etwas, das sich wie Schnarchen anhörte, unmittelbar darauf jedoch folgten andere Geräusche, die aus der Nähe des Tischs zu kommen schienen: ein Seufzen, Stille, und dann ein leises Klopfen, als ob jemand ein Glas auf dem Tisch abgestellt hätte. Mindestens einer von ihnen war also noch wach, dachte er, aber wie konnte er sicher sein, daß es nur einer war? Dann hörte er, wie Karten gemischt wurden, dann klopfte es siebenmal auf den Tisch, gefolgt von einer kurzen Pause. Dann klopfte es sechsmal, und wieder eine Pause. Dann klopfte es fünfmal. Dann viermal, dann dreimal, dann zweimal, dann einmal. Patience, dachte Effing, zweifelsohne Patience. Einer von denen blieb auf, und die beiden anderen schliefen. Es konnte nicht anders sein, denn sonst würde der Kartenspieler mit einem der anderen reden. Aber er redete nicht, und das konnte nur bedeuten, daß er niemanden zum Reden hatte.
    Mit dem Gewehr im Anschlag schritt Effing vor den Eingang der Höhle. Wie er feststellte, war es gar nicht so schwierig, die Kerze in der linken Hand zu halten; seine Panik war umsonst gewesen. Der Mann am Tisch riß bei Effings Erscheinen den Kopf hoch und starrte ihn voller Entsetzen an. «Gottverdammte Scheiße», flüsterte der Mann. «Ich denk, du bist tot.»
    «Ich fürchte, da haben Sie was falsch verstanden», gab Effing zurück. «Wenn hier einer tot ist, dann Sie, nicht ich.»
    Er drückte ab, und eine Sekunde später flog der Mann mit einem Aufschrei in seinem Stuhl zurück, als die Kugel ihm in die Brust drang, und dann war plötzlich kein Ton mehr von ihm zu hören. Effing spannte das Gewehr von neuem und legte auf den zweiten der Brüder an, der sich hastig von seiner Matratze am Boden aufzurappeln versuchte. Auch ihn tötete Effing mit nur einem Schuß, die Kugel traf ihn mitten ins Gesicht und riß ihm die hintere Schädeldecke weg, Hirn und Knochen spritzten durch den Raum. Mit dem dritten Gresham ging es jedoch nicht ganz so einfach. Der lag auf dem Bett im hinteren Teil der Höhle, und als Effing mit den ersten beiden fertig war, hatte Nummer drei schon seinen Revolver gepackt und schußbereit gemacht. Eine Kugel pfiff an Effings Kopf vorbei und prallte an dem Eisenofen hinter ihm ab. Er spannte sein Gewehr und sprang hinter den Tisch zu seiner Linken, wobei er versehentlich beide Kerzen auslöschte. In der Höhle wurde es stockfinster, der Mann im hinteren Teil begann hysterisch zu heulen, schluchzte einen Haufen Unsinn von dem toten Einsiedler und feuerte wild in Effings Richtung. Effing kannte die Umrisse der Höhle auswendig, und selbst im Dunkeln wußte er ganz genau, wo der andere Mann stand. Er zählte sechs Schüsse - der rasende dritte Bruder würde seinen Revolver im Dunkeln unmöglich neu laden können -, dann stand er auf und ging auf das

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