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Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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bekräftigt und zu etwas Unausweichlichem geworden. Seinen Nachnamen brauche er mir nicht zu erläutern, meinte er. Er hatte mir bereits gesagt, Effing sei ein Wortspiel, und falls ich ihn nicht grundsätzlich falsch verstanden hatte, glaubte ich zu wissen, wie es zustande gekommen war. Als er das Wort Thomas niederschrieb, dürfte ihm der Ausdruck doubting Thomas, der ungläubige Thomas, in den Sinn gekommen sein. Dieses Gerundium erinnerte ihn an ein anderes: fucking Thomas , was er wiederum aus Gründen des Anstands zu fing abkürzte. So wurde er zu Thomas Effing, dem Mann, der sein Leben verpfuscht hatte. In Anbetracht seiner Vorliebe für grobe Witze konnte ich mir gut vorstellen, wie zufrieden er mit sich gewesen sein mußte.
    Ich rechnete eigentlich von Anfang an damit, daß er mir von seinen Beinen erzählen würde. Die Felsen von Utah kamen mir als Schauplatz eines entsprechenden Unfalls recht wahrscheinlich vor, doch täglich kam sein Bericht ein wenig voran, und noch immer hatte er nicht davon gesprochen, wie er zum Krüppel geworden war. Der Treck mit Scoresby und Byrne, die Begegnung mit George Ugly Mouth, das Duell mit den Greshams: alle diese Abenteuer hatte er unversehrt überstanden. Dann war er in San Francisco, und langsam begann ich zu zweifeln, ob er je auf dieses Thema zu sprechen kommen würde.
    Über eine Woche verbrachte er mit der Schilderung dessen, was er mit dem Geld gemacht hatte: zählte die Investitionen auf, die er getätigt, die Finanztransaktionen, die er abgewickelt, die wahnsinnigen Risiken, auf die er sich am Börsenmarkt eingelassen hatte. Binnen neun Monaten war er wieder reich, fast so reich wie zuvor: Er besaß ein Haus mit Dienstpersonal am Russian Hill, er hatte Frauen, wann immer er welche wollte, er bewegte sich in den elegantesten Kreisen der Gesellschaft. Vielleicht hätte er sich in diesem Leben dauerhaft eingerichtet (zumal es ja genau das Leben war, das er seit seiner Kindheit kannte), wenn es nicht etwa ein Jahr nach seiner Ankunft zu einem gewissen Vorfall gekommen wäre. Zusammen mit rund zwanzig anderen Gästen auf eine Dinnerparty eingeladen, sah er sich plötzlich einer Gestalt aus seiner Vergangenheit gegenüber, einem Mann, der über zehn Jahre lang in New York mit seinem Vater zusammengearbeitet hatte. Alonzo Riddle war inzwischen ein alter Mann, doch als er Effing vorgestellt wurde und ihm die Hand gab, erkannte er ihn zweifellos wieder. In seiner Überraschung ließ Riddle sich zu der Bemerkung hinreißen, daß Effing einem Mann, den er früher gekannt habe, zum Verwechseln ähnlich sehe. Effing tat diesen Zufall leichthin ab und scherzte freundlich über die angebliche Tatsache, daß jeder Mensch irgendwo einen exakten Doppelgänger habe, aber Riddle war zu verblüfft, um es dabei bewenden zu lassen, und fing an, Effing und den anderen Gästen die Geschichte von Julian Barbers Verschwinden zu erzählen. Das war ein entsetzlicher Augenblick für Effing, und unfähig, sich von Riddles verwunderten und argwöhnischen Blicken loszumachen, wand er sich den Rest des Abends über in panischer Verlegenheit.
    Nun begriff er endlich, wie heikel seine Lage war. Früher oder später mußte er wieder jemandem aus seiner Vergangenheit über den Weg laufen, und nichts konnte ihm garantieren, daß er dann genauso leicht davonkommen würde wie bei Riddle. Der nächste würde selbstsicherer sein, aggressiver in seinen Vorhaltungen, und ehe Effing es sich versähe, würde die ganze Sache nach hinten losgehen. Vorsichtshalber hörte er sofort damit auf, Partys zu geben und Einladungen anzunehmen, doch wußte er, daß ihm derlei auf Dauer auch nicht helfen würde. Irgendwann würde den Leuten auffallen, daß er sich von ihnen zurückgezogen hatte, und das würde ihre Neugier erregen, was wiederum Gerüchten Vorschub leisten würde, die nur zu Schwierigkeiten führen konnten. Es war November 1918. Vor kurzem war der Waffenstillstand unterzeichnet worden, und Effing wußte, daß seine Tage in Amerika gezählt waren. Trotz dieser Gewißheit sah er sich nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Er verfiel in Trägheit, konnte weder Pläne machen noch über die Möglichkeiten nachdenken, die ihm offenstanden. Aufgewühlt von Schuldgefühlen und dem schrecklichen Vergehen, das er gegen sein Leben begangen hatte, gab er sich der leichtsinnigen Phantasievorstellung hin, mit irgendeiner kolossalen Lüge, die das Geschehene rechtfertigen sollte, nach Long Island zurückzukehren. Das kam

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