Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mond über Manhattan

Mond über Manhattan

Titel: Mond über Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
zwar nicht in Frage, aber es war ein erlösender Traum, an den er sich klammerte, und hartnäckig heckte er eine Scheinlösung nach der anderen aus, ohne sich zum Handeln bewegen zu können. Mehrere Monate lang hielt er sich von der Welt fern, schlief tagsüber in seinem abgedunkelten Zimmer und wagte sich nur nachts nach Chinatown hinaus. Immer nur nach Chinatown. Obwohl er eigentlich nie dorthin wollte, brachte er nie den Mut auf, nicht dorthin zu gehen. Gegen seinen Willen besuchte er immer wieder die Bordelle, Opiumhöhlen und Spielsalons, die dort im Labyrinth der engen Straßen versteckt waren. Er suchte Vergessen, wie er sagte, wollte in einer Erniedrigung ertrinken, die dem Abscheu, den er vor sich selbst empfand, entsprechen sollte. Seine Nächte wurden zu einem süchtig machenden Strudel von klappernden Roulettescheiben und Rauch, von Chinesinnen mit pockennarbigen Gesichtern und fehlenden Zähnen, von stickigen Räumen und Ekel. Seine Verluste bei diesen Ausschweifungen waren so hoch, daß er im August ein Drittel seines Vermögens vertan hatte. Das wäre bis zum Ende so weitergegangen, sagte er, bis er sich entweder das Leben genommen oder sich um sein letztes Geld gebracht haben würde, wenn, ja wenn das Schicksal ihn nicht ereilt und zerbrochen hätte. Was passierte, hätte brutaler und plötzlicher nicht eintreten können, doch bei allem Elend, das es zur Folge hatte, stand fest, daß nur eine Katastrophe ihn hatte retten können.
    In dieser Nacht regnete es, sagte Effing. Er hatte einige Stunden in Chinatown verbracht und war auf dem Heimweg, ganz zittrig von der Droge in seinem Körper und sich kaum bewußt, wo er war. Es war drei oder vier Uhr morgens, und er stieg den steilen Hügel hinauf, der zu seiner Wohngegend führte; fast bei jeder Laterne mußte er stehenbleiben, um sich festzuhalten und zu Atem zu kommen. Schon beim Aufbruch hatte er seinen Schirm verloren, und als er den letzten Hügel erreichte, war er naß bis auf die Haut. Der Regen hämmerte auf den Bürgersteig, sein Kopf schwamm im Nebel des Opiums, und so hörte er den Fremden nicht, der hinter ihm auftauchte. Eben noch trottete er die Straße entlang, und im nächsten Augenblick schien ein Haus über ihm einzustürzen. Er hatte keine Ahnung, was es war - eine Keule, ein Ziegelstein, ein Revolverknauf, es hätte alles mögliche sein können. Er spürte lediglich die Gewalt des Schlages, einen ungeheuren Stoß an die Schädelbasis, und dann ging er zu Boden, brach umgehend auf dem Bürgersteig zusammen. Er kann nur wenige Sekunden lang bewußtlos gewesen sein, denn als nächstes erinnerte er sich, daß er die Augen aufschlug und daß Wasser in sein Gesicht sprühte. Er schlitterte den Hügel hinunter, schoß kopfüber und bäuchlings die glitschige Straße in einem Tempo bergab, das er nicht kontrollieren konnte, sosehr er auch mit Armen und Beinen ruderte und irgend etwas zu fassen suchte, um das wilde Schlittern zu beenden. Er mühte sich umsonst, er konnte nicht anhalten, kam nicht hoch, konnte nichts anderes tun, als sich wie ein verwundetes Insekt herumzuwälzen. Irgendwann muß er dann seinen Körper so gedreht haben, daß er ein wenig von seinem geraden Weg den Bürgersteig hinunter abkam, und plötzlich sah er, daß er gleich vom Bordstein stürzen und auf die Straße fliegen würde. Er machte sich auf den Stoß gefaßt, doch im Augenblick, als er an die Kante kam, drehte er sich noch einmal um achtzig oder neunzig Grad, rammte einen Laternenpfahl, und sein Rückgrat krachte mit voller Wucht gegen das Eisen. Im gleichen Augenblick hörte er etwas zerbrechen, und dann kam ein Schmerz, anders als jeder andere, den er je empfunden hatte, ein so heftiger und grotesker Schmerz, daß er glaubte, sein Körper sei buchstäblich explodiert.
    Die genauen medizinischen Details seiner Verletzung hat er mir nicht mitgeteilt. Was zählte, war die Prognose, und da waren die Ärzte bald zu einem einstimmigen Urteil gelangt. Seine Beine waren gelähmt, und keine Therapie der Welt würde ihn wieder zum Gehen befähigen können. Seltsamerweise, sagte er, nahm er das fast mit Erleichterung zur Kenntnis. Es war die Strafe, und da es eine schreckliche Strafe war, brauchte er sich nicht mehr selbst zu bestrafen. Sein Verbrechen war gesühnt, und mit einemmal fühlte er sich wieder leer: Verschwunden waren die Schuldgefühle, die Ängste, ertappt zu werden, die Bedrohung. Wäre der Unfall anders verlaufen, hätte er vielleicht nicht dieselbe

Weitere Kostenlose Bücher