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Monde

Titel: Monde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Anstrengung. Joe, der war wegen was anderem dort, kannte aber jemanden, der gut mit Merle Weaver befreundet war. Und so kams, dass Joe – wir sollten ihn alle so nennen – die vollen zwei Tage mit uns verbracht hat. Ging in die Gefechtszone mit uns und so weiter. Ich meine, er hatte Verpflichtungen, aber wenn er Zeit hatte, waren er und Merles Freunde mit uns essen und haben uns ‘ ne Runde Drinks spendiert. Einen netteren Burschen können Sie sich nicht vorstellen.«
    Baedecker stellte plötzlich überrascht fest, dass er seine Umgebung erkannte. Beispielsweise musste hinter der nächsten Kurve der Straße die Milchzentrale mit einer Blumenuhr in der Mitte der Einfahrt auftauchen. Und so war es. Die Uhr fehlte, aber dafür wirkte der Parkplatz neu asphaltiert. Das Haus mit dem purpurnen Schindeldach auf der linken Straßenseite hatte seine Mutter immer als die alte Postkutschenstation bezeichnet. Er beäugte den windschiefen Balkon des ersten Stocks, überzeugt, dass es sich um dasselbe Gebäude handelte. Die plötzliche Überblendung vergessener Erinnerungen mit der Wirklichkeit war beunruhigend für Baedecker, ein Gefühl des Déjà -vu, das er nicht mehr abschütteln konnte. Er starrte geradeaus und wusste, dass nur noch eine langgezogene Kurve und eineinhalb Kilometer Straße vor ihnen lagen, bevor die Baumreihe und der einsam über die Maisfelder aufragende grüne Wasserturm auftauchen würden, die Glen Oak markierten.
    »Haben Sie Joe Namath je kennengelernt?«, fragte Ackroyd.
    »Nein, nie«, sagte Baedecker. An einem klaren Tag würde sich Illinois aus einer Höhe von elftausend Metern in einer 747 als grünes Flickwerk aus Rechtecken präsentieren. Baedecker wusste, dass der rechte Winkel den Mittelwesten ebenso beherrschte wie die sinusförmigen, zufälligen Kurven der Erosion den Südwesten, wo er fast alle seine Flüge absolviert hatte. Aus einer Höhe von zweihundert Seemeilen war der Mittelwesten ein Durcheinander grüner und brauner Farbtöne zwischen weißen Wolkenmassen gewesen. Vom Mond aus sah man überhaupt n ichts. Während des sechsunddrei ßigstündigen Aufenthalts auf dem Mond hatte Baedecker nicht einmal daran gedacht, nach den Vereinigten Staaten Ausschau zu halten.
    »Einfach nur ein echt netter Kerl. Nicht so überheblich wie manche berühmte Leute, die man trifft, wissen Sie? Jammerschade, das mit seinem Knie.«
    Der Wasserturm hatte sich verändert. Ein hohes, weißes Gebilde aus Metall hatte das alte grüne ersetzt. Das neue erglühte in den goldenen, schrägen Strahlen der spätsommerlichen Abendsonne. Baedecker spürte, wie ihn irgendwo zwischen Herz und Hals ein seltsames Gefühl überkam. Nicht Nostalgie oder eine wiedererweckte Regung von Heimweh. Bei der aufwallenden Gefühlswoge, die durch ihn strömte, handelte es sich schlicht und ergreifend um Ehrfurcht angesichts einer unerwarteten Konfrontation mit Schönheit. Denselben überraschenden Schmerz hatte er als Kind an einem regnerischen Nachmittag im Art Institute von Chicago verspürt, als er vor einem Ölgemälde von Degas stand, das eine junge Ballerina mit einem Armvoll Orangen zeigte. Und genauso war es ihm gegangen, als er zum ersten Mal seinen Sohn sah, purpurn, verschrumpelt, glitschig und aus vollem Hals kreischend, nur wenige Sekunden nach der Geburt. Baedecker hatte keine Ahnung, weshalb er jetzt so empfand, aber unsichtbare Daumen schienen auf die Mulde am Halsansatz zu drücken, und er fühlte ein Brennen hinter den Augen.
    »Ich wette, Sie erkennen die alte Heimat nicht wieder«, sagte Ackroyd. »Wie lange ist es her, seit Sie zum letzten Mal hier waren, Dick?«
    Glen Oak tauchte jetzt als Reihe vereinzelter Bäume auf, wuchs zu einer Ansammlung weißer Häuser und füllte schließlich die gesamte Windschutzscheibe aus. Die Straße machte an einer Sunoco-Tankstelle wieder eine Biegung, führte an einem alten Backsteinhaus vorbei, bei dem es sich, wie seine Mutter einmal erzählt hatte, um einen Bahnhof der unterirdischen Bahnlinie handelte, und vorüber an einem weißen Schild mit der Aufschrift: GLEN OAK EINWOHNERZAHL 1275 ELEKTRONISCHE GESCHWINDIGKEITSKONTROLLEN.
    »1956«, sagte Baedecker. »Nein, 1957. Bei der Beerdigung meiner Mutter. Sie starb ein Jahr nach meinem Vater.«
    »Sie sind auf dem Friedhof Calvary begraben«, sagte Ackroyd, als wäre das Baedecker völlig neu.
    »Ja.«
    »Möchten Sie gern hin? Bevor es dunkel wird? Würde mir nichts ausmachen.«
    »Nein.« Baedecker spähte hastig nach links

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