Mondherz
»Du hast recht.« Seine Worte schwebten wie Raubvögel über ihr, jederzeit bereit zuzustoßen. »Ich habe dir nicht alles gesagt. Weil ich mir nicht sicher bin, ob du es ertragen kannst.«
»Pah!« Sie richtete sich auf. Ihr ganzer Körper schmerzte, als ob die Wunden, die er ihr zugefügt hatte, tatsächlich ihre Haut zeichneten. Eine weitere würde kaum etwas ausmachen. »Ich will es wissen. Du bist es mir schuldig.«
»Du wirst mich dafür hassen.«
»Das tue ich jetzt schon«, sagte sie ruhig, und sie meinte die Worte auch so. »Ein Feigling bist du, der mich einfach wegschicken will, statt mit mir zu reden!«
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. War sie zu weit gegangen? Er war stolz, und er war stärker als sie. Ihre Wölfin zog in Erwartung eines Wutausbruchs den Kopf ein, doch Veronika wandte den Blick nicht ab.
Da sprach er plötzlich, leise und doch klar tönten die Worte aus seinem Mund. Sie veränderten seine Stimme, machten sie tiefer und geheimnisvoller.
»›Die Jungfrau wird von hoher Geburt sein. Am roten Mal werdet Ihr sie erkennen.‹«
Unwillkürlich wanderte ihre Hand zu ihrer Schulter, dort wo das verhasste rote Feuermal lauerte.
»›Ihr Wesen wird von zweigestaltigem Blut sein, mit einem Willen, der selbst den Ältesten widersteht‹«, zitierte er.
Sie hielt den Atem an. Ihre Wölfin knurrte tonlos. »Was bedeutet das?«, fragte sie beklommen.
»Diese Worte sind fünfhundert Jahre alt. Sie sind der Beginn einer Prophezeiung. Sie sprechen von dir. Deshalb hast du als einzige Frau den Wolfsbiss überlebt.«
»Wie kann das sein?«, flüsterte sie. Sie fröstelte plötzlich. »Welchem Ältesten habe ich denn widerstanden?«
»Pavel.« Er runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht wie, doch in eurem Gespräch hat er dich geprüft.«
Es fiel ihr schwer, daran zurückzudenken. Ja, sie hatte Pavel angelogen, als er sie nach Gábor gefragt hatte. Der Älteste hatte es gemerkt, doch er hatte sie nicht zwingen können, ihm die Wahrheit zu sagen. Sie schloss die Augen.
»Kein Werwolf kann dem direkten Befehl eines Ältesten widerstehen«, sagte Gábor. »Du konntest es, auf irgendeine Weise.«
Sie riss die Augen wieder auf. »Ich wollte uns schützen. Ich habe mich geweigert, ihm von dem Kuss zu erzählen.«
Und was hatte es ihr gebracht? Nichts. Sie holte Luft. »Wie geht die Prophezeiung weiter?«
»›Nur königliches Blut darf ihren unberührten Leib besäen‹«, fuhr er fort. Seine Stimme war so tief, dass sie in ihren Ohren zu dröhnen schien. »›Dann wird sie ein Kind mit zwei Seelen gebären, ein Kind, das allein die Welt aus der Verdammnis retten kann.‹«
Ungläubig starrte sie ihn an. »Sag mir, dass das nicht wahr ist!«
Die Zeit schien stillzustehen, als sie sich ansahen. Doch dann wandte er den Blick ab und antwortete. »Es ist wahr. Du bist für einen König bestimmt. Du wirst ihm ein Kind schenken.«
»Das ist Unsinn. Ich will mit keinem König zusammen sein.« Ihr Herz flatterte wie ein gefangener Sperling. »Ich dachte, wir …«
Er schüttelte den Kopf. »Es geht um mehr als um uns, Veronika. Nur dieses Kind, und du wirst frei sein.«
»Frei sein?« Sie schnappte nach Luft. Ihre Knie zitterten, und sie hielt sich an einem Balken fest, während sie die Worte hervorschleuderte. »Du willst eine Hure aus mir machen!«
Alles Blut wich aus seinem Gesicht. »Nein«, flüsterte er. »Es tut mir leid.« Er schien nun ebenfalls zu schwanken. »Meine Aufgabe war es, die prophezeite Frau zu finden. Vor mehr als zehn Jahren musste ich Viktor einen Schwur darüber leisten.« Sie wollte ihn unterbrechen, doch er hob abwehrend die Hand. »Drei Frauen fand ich, von hoher Geburt und mit einem roten Mal, so wie du eines hast«, sagte er. »Ich biss sie, und alle drei starben. Der Teufel hat mir dafür einen Platz in der Hölle reserviert.«
»Du hast diese Frauen getötet?« Entsetzt starrte sie ihn an. »Nur wegen eines alten Mythos?« Sie wich einen Schritt vor ihm zurück.
Gábor nickte. Er sah zu Boden, als ob er ihren schockierten Blick nicht mehr ertragen könne. »Nach dem Tod der letzten Frau war ich auf der Flucht«, sagte er. »Miklos’ Familie rettete mich. Als ich Miklos verwandelte, beschloss ich, dass er der Letzte sein sollte, der von mir den Wolfskuss erhalten würde, im Guten wie im Schlechten. Ich wollte nicht noch mehr Schuld auf mich laden. Ich mied Viktor, und zu meiner Erleichterung ließ er mich damit in Ruhe, fünf Jahre lang. Vielleicht ahnte er,
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