Mondherz
musterte. Die Kriege der letzten Jahrhunderte hatten der Stadt reiche Gewinne, aber auch Demütigungen und Zerstörungen eingebracht, doch nichts davon schien sie im mindesten beeindruckt zu haben. Prag war in seiner behäbigen Eleganz viel ehrwürdiger als das militärisch geprägte Belgrad oder das vornehme Buda mit seinen geschwungenen Hügelstraßen. Die Stadt war so groß, dass manche Bewohner ihre Viertel nie verließen. Manchmal schien es Gábor, als läge den Pragern das Alter ihrer Stadt wie eine Last auf den Schultern. Trotz ihrer lebhaften Betriebsamkeit haftete vielen von ihnen etwas Verzagtes an – als wüssten sie, jener Ort duldete sie nur für ein paar Jahrzehnte, um nach ihrem Tod unbeeindruckt weiterzuexistieren. Gábor war froh, der Stadt entronnen zu sein.
Pavel hatte Miklos und ihm angeboten, im Landgut seines Rudels zu wohnen, einem großen von Mauern geschützten Haus, zwei Reitstunden von Prag entfernt. Georg von Podiebrad, Reichsmarschall von Böhmen und Pavels Dienstherr, hatte den Werwölfen das große Grundstück mit dem Gutshof überlassen, wohin sie sich zurückzogen, wenn ihr Wolfstrieb sie rief.
Podiebrad war dafür bekannt, dass er Freunde und Verbündete freigiebig mit Geschenken bedachte. Auch für sein eigenes Wohl sorgte er großzügig. Seine Neigung zum böhmischen Bier und feuchtfröhlichen Festen verzieh ihm das Volk jedoch gerne. Jeder kannte die Geschichten, wie er sich mit Fleiß und List hochgearbeitet hatte, vom niederen Landadligen bis zum böhmischen Regenten. Trotz seiner fürstlichen Residenz in Prag und dem gewaltigen Bauch, den er sich seitdem zugelegt hatte, vergaß er nie, woher er kam. Er galt als Schlitzohr, das sich stets die Gunst des böhmisch-ungarischen Königs sicherte, um die Interessen der ärmeren böhmischen Bevölkerung gegen die Ungarn zu wahren. Die Prager Bevölkerung liebte ihn dafür. Wenn er über die Karlsbrücke ritt, deren sechzehn Steinbögen sich majestätisch über die Moldau schwangen, jubelten sie ihm zu, und wenn er einem Kleinkind die Wange tätschelte, galt es als gesegnet.
Pavel diente Podiebrad schon seit vielen Jahren, und obwohl sie im Auftreten unterschiedlicher nicht sein konnten, wusste Gábor, dass sie sich in allem gegenseitig vertrauten. Podiebrad kannte den Wolfsbund, und er hatte Gábors und Miklos’ Aufenthalt in seiner Stadt genehmigt, allerdings mit der Anweisung, sich versteckt zu halten. »Offiziell hat er von eurer Anwesenheit nie erfahren«, hatte Pavel ihnen eingeschärft. »Und er will, dass das so bleibt. Dann wird auch König Ladislaus nichts davon zu Ohren kommen.«
Ladislaus. Gábor spürte die altbekannte Wut in sich aufsteigen. Der junge König, der ihn vor einem halben Jahr in Buda in den Kerker hatte werfen lassen, war der eigentliche Grund, warum Miklos und er sich in das Landhaus zurückgezogen hatten. Ausgerechnet der König, dessen Truppen immer noch nach Hunyadis Anhängern fahndeten, war nach Prag gekommen, um dort Schutz zu suchen. Seit er Laszlo Hunyadi ohne Verhandlung hatte hinrichten lassen, waren die Proteste des ungarischen Volkes von leisen Rufen zu einem tobenden Geschrei angeschwollen. Wie Gábor befürchtet hatte, war es jenen Getreuen, die er im Kerker befreit hatte, nicht gelungen zu fliehen. Es war zu einem Kampf gekommen, bei dem einige gestorben und die anderen erneut gefangen genommen worden waren. Obwohl der König anschließend einige von ihnen begnadigt hatte, darunter auch Laszlos Beichtvater, hatte die Bevölkerung von Buda protestiert. In den folgenden Unruhen waren zwei königliche Soldaten angegriffen und getötet worden.
Augenscheinlich fehlte dem König die Durchsetzungsfähigkeit Ulrich Cillis. Ladislaus’ Ränkespiel war zu offensichtlich, sein Unverständnis für die Belange des Volkes zu ärgerlich, und seine Feigheit ließ die Leute über ihn spotten. Überstürzt hatte er seine Hauptstadt verlassen und war nach Böhmen geflohen. In der ehrwürdigen Königsburg auf dem Prager Berg Hradschin leckte er nun seine Wunden. Seine Berater hofften, das Volk mit einer Hochzeit zu besänftigen. Ladislaus’ Braut war die vierzehnjährige Magdalena Valois, die Tochter von Louis VII ., dem König von Frankreich. Im Herbst sollte die Trauung stattfinden.
Gábor blickte aus dem Fenster seiner Kammer. Ein paar Gänse watschelten davor über die Wiese, die allerdings eher einer verdorrten Steppe ähnelte. Begrenzt wurde die Wiese durch die Mauer, die das Landgut wie eine
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