Mondherz
Geruch von Viktor. Doch er war nicht da. Sonst schien der Älteste zu spüren, wenn Neuankömmlinge eintrafen, aber sie hatte ihn ohnehin seit Tagen nicht mehr gesehen. Was sollte sie tun, wenn ihnen die Reiter feindlich gesinnt waren? Ihre Wölfin knurrte leise. Rasch versteckte sie die Hand mit dem Brotmesser hinter ihrem Rücken.
Da kamen die ersten Reiter zwischen den Bäumen hervor. Es waren Roma. Erleichtert holte sie Luft, nur um dann keuchend den Atem auszustoßen. Die Männer hatten zerschundene Gesichter und hingen so erschöpft in den Sätteln, als seien sie tagelang geritten. Paulo war unter ihnen. Seine Kleidung war verschmutzt und teilweise zerrissen, und ein Arm sah aus, als sei er verletzt. Acht Pferde waren es, die hintereinander den Hügel hinauftrabten. Sie schnaubten während des steilen Anstiegs. Veronika kniff die Augen zusammen. Auf dem letzten Pferd saßen zwei Reiter.
»Solana.« Ihre Stimme war vor Überraschung schrill, und unbemerkt war ihr das Messer aus den Fingern geglitten. »Phuri Dai!«
Als hätte ihr Ausruf einen Bann gebrochen, eilten die Roma ihren Verwandten entgegen. Veronika raffte das schwere Tuch ihres Rocks zusammen und rannte ebenfalls los. Sie kam als Erste bei der Gruppe an, nickte Paulo zu und blieb dann vor dem Reittier ihrer Freundin stehen.
Solana hielt ihre Großmutter, die vor ihr im Sattel saß, mit einem Arm fest, während sie mit der anderen Hand das Pferd lenkte. Beide sahen unter ihrer dunklen Haut hohlwangig und blass aus. Besonders die alte Phuri Dai wirkte so schwach, als könnte sie jeden Moment vom Pferd fallen.
»Veronika.« Solana verzog den Mund zu einer Grimasse, die ein Lächeln sein sollte. Sie ließ die Zügel los. Das Pferd senkte den Kopf und blieb erschöpft stehen.
Die Phuri Dai schien Veronika gar nicht zu bemerken. Sie hielt ihre blinden Augen geschlossen, ihr Atem ging schleppend und mühsam.
»Was ist passiert?«, rief Veronika. »Seid ihr verletzt?«
»Wir wurden überfallen. Gestern im Morgengrauen«, murmelte Solana, als fehle ihr die Kraft, lauter zu sprechen.
Veronika stöhnte auf. Sie legte tröstend eine Hand auf das Bein ihrer Freundin. In dem Moment, als sie Solana berührte, hob ihre Wölfin den Kopf. Etwas war anders, ein neuer Geruch, der ihrer Menschenfreundin anhaftete. Veronika runzelte die Stirn, vergaß den Eindruck jedoch gleich wieder. All ihre Gedanken konzentrierten sich auf die Sorgen um ihre lieben Freunde. Sie ergriff die Zügel und führte das Pferd den Berg hinauf.
Bei jedem Schritt des Tieres verzog Solanas Großmutter das Gesicht. »Viktor«, murmelte sie. »Wo ist Viktor?«
Veronika schüttelte bang den Kopf. »Er ist nicht hier, ich weiß nicht, wo er geblieben ist.«
»Er war bei uns«, antwortete Solana. »Er kam als Wolf und hat die Kriegsknechte angegriffen.« Suchend schaute sie sich um. »Vorhin war er noch hinter uns …« Hilflosigkeit ließ auf einmal Tränen in ihren dunklen Augen glänzen. »Er war verletzt«, schluchzte sie. »Er muss zurückgeblieben sein.«
Veronikas Herz zog sich zusammen. Sie drückte Solana die Zügel in die Hand. »Ich werde ihn suchen.«
Voller Angst lief sie den Berg hinunter auf den Wald zu. Tausend Gedanken tobten durch ihren Kopf. Wer hatte die Roma überfallen? Wie schwer war Viktor verletzt? Doch ehe sie bei den Tannen ankam, sah sie den Wolf. Er war hager, von grauer Farbe und hatte ein zottiges Fell, das sich zu lichten begann. Mühsam hinkte er die Steigung hinauf auf sie zu.
Im nächsten Moment entdeckte sie die rot schwärende Wunde, die sich über sein Hinterbein zog, und den Pfeilschaft, der etwas weiter oben aus seinem Bein ragte. Ihre Wölfin jaulte auf.
Rudelführer!
Der Wolf sah kaum auf, als sie näher kam. Obwohl er nur kleine Schritte machte, hechelte er wie nach einem raschen Lauf. Verkrustetes Blut und Dreck verunstalteten sein Fell, und die beiden Wunden stanken nach Eiter. Fiebrige Hitze ging von ihm aus. Seine dunkelblauen Augen waren trüb vor Schmerz. Als sie sich über ihn beugen wollte, knurrte er. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, und daraufhin ignorierte er sie, als hätte er ihre Anwesenheit schon wieder vergessen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als langsam hinter ihm herzugehen.
Die Roma sahen ihnen entgegen, ihre aufgeregten Gespräche waren verstummt. Die Reiter hatten sich bereits zu ihren Angehörigen gesellt. Mit Erleichterung sah Veronika, dass eine Frau sich gerade um Paulos Arm kümmerte. Solana schien sich
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