Mondherz
Kaninchens.
Veronika wurde wieder bewusst, wie alt er war. Er hatte einmal von einem Ältesten gesprochen, dessen Lebensfaden so dünn geworden war, dass er den Tod nahen spürte. Jetzt kam es ihr so vor, als könnte Viktors Lebensfaden jederzeit reißen. Sie kniff die Augen zusammen, doch ihre Tränen tropften trotzdem auf ihn herab, während die Phuri Dai und Solana die Wunden verbanden.
Als spürte die Alte ihre Sorgen, wandte sie ihr ihre blinden Augen zu. »Er wird es überleben«, sagte sie, »doch er braucht Ruhe. Lasst mich mit ihm allein.«
Veronika und Solana wechselten einen Blick, dann erhoben sie sich. Veronika zündete eine der Fackeln an der Wand an, ehe sie gingen. Selbst wenn Phuri Dai das Licht nicht brauchte, war die Vorstellung doch unerträglich, sie und Viktor in tiefstem Dunkel zurückzulassen.
Als sie nach draußen kamen, ergriff Solana Veronikas Hand. »Meine Freundin«, sagte sie mit ihrer weichen Stimme, in welcher der Singsang der Romasprache wie eine geheime Melodie schwang. »Wir haben uns noch gar nicht richtig begrüßt.« Solana schloss sie in die Arme.
Veronika spürte die Wärme der jungen Romafrau, ihren vertrauten Geruch, und schloss die Augen. Da spürte sie es wieder, das Neue, das Solana begleitete. Sie hörte Solanas Herzschlag und dahinter das leise, doch stete Pochen eines zweiten Herzens.
»Du bist schwanger!«, rief sie überrascht und hielt ihre Freundin auf Armlänge von sich. Solanas Bauch war allerdings noch nichts anzusehen.
Solana nickte und riss die dunklen Augen auf. »Du kannst es spüren?«, fragte sie aufgeregt. »Geht es meinem Kind gut?«
»Ich höre seinen Herzschlag«, erwiderte Veronika. »Er ist laut und kräftig.«
Ein Strahlen glitt über Solanas Gesicht. Veronika sah sie an, versuchte ein Lächeln. Sie sollte sich mit ihr freuen! Stattdessen senkte sie den Blick. Das Kind, das Solana bekam, war ein Geschenk des Mannes, den sie liebte. Ihr dagegen würde so ein Glück wohl nie beschieden sein. Jäher Hass durchströmte sie, Hass auf den Wolfsbund, der ihren Leib als sein Eigentum betrachtete und ihr damit ihre Liebe gestohlen hatte.
»Veronika?« Solanas besorgte Stimme durchbrach ihre Gedanken. »Geht es dir nicht gut? Oder …« Sie stockte. »Ist etwas mit meinem Kind?«
»Nein.« Sie zwang sich, Solana in die Augen zu blicken. »Ich mache mir nur Gedanken … wegen Viktor.« Sie schämte sich, weil ihre Lüge eigentlich die Wahrheit sein sollte. Heute ging es nicht um sie, heute ging es darum, dass Viktor wieder gesund wurde. Auch die Roma hatten genug Leid erlitten, sie hatten gestern Brüder und Söhne verloren. Veronikas Sorgen waren daneben nicht mehr als Mückenstiche.
Sie sah sich um. Bis auf Ilai und Senando hatten sich die anderen Neuankömmlinge in die Höhlen zurückgezogen. Der Stammesführer und sein Schwiegersohn sahen ihnen nun gespannt entgegen, warteten auf die Nachrichten, die sie von Viktor bringen mochten. Solana warf ihnen einige Sätze in der Romasprache zu, und ihre Gesichter entspannten sich ein wenig. Doch sie sahen immer noch abgehärmt aus. Das helle Licht der Nachmittagssonne gab die Erschöpfung der zwei Roma mitleidslos preis. Und auch Solana war sichtbar am Ende ihrer Kräfte.
Veronika fuhr sich über die Stirn, zwang sich, all die schlechten Gedanken für den Augenblick fortzuwischen. »Geht schlafen«, sagte sie. Als Ilai widersprechen wollte, schüttelte sie den Kopf. »Geht ruhig. Ich halte Wache und wecke euch, wenn die Sonne untergegangen ist.«
Der Abend dämmerte, als ihre Wölfin wachsam den Kopf hob. Sie sah sich um. Zwei Romajungen trieben eine kleine Ziegenherde den Hang hinauf auf die Höhlen zu, doch sie waren es nicht, die Veronika aufgeschreckt hatten. Wind strich über die gelben und roten Baumwipfel, die im Licht der untergehenden Sonne zu brennen schienen. Eine Schar Zugvögel strich Richtung Süden über sie hinweg. Ihre Wölfin trieb sie, sich zu erheben. Was hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt? Da war es wieder. Ein Ziehen an ihrer wölfischen Seele, eine Stimme, kaum wahrnehmbar.
Veronika!
Viktor rief sie. Ohne zu zögern, sprang sie auf und eilte zur Kammer des Ältesten. Der Rudelführer hatte sich halb aufgesetzt und sah ihr entgegen. Er war bleich, seine weißen Haare klebten verschwitzt auf seiner Stirn.
Als sie die Kammer betrat, hob er warnend die Hand. Am Fuße seines Lagers hatte sich die Phuri Dai zusammengerollt. Ihre regelmäßigen Atemzüge zeigten, dass sie
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